Treffen sich zwei Kolumbianer aus den Anden, ein Hamburger Tischler, eine bergverliebte Wienerin samt Pudel und zwei Schweizer Zwillingsbrüder auf einer Schutzhütte in den steirischen Bergen. Beginnt wie ein Witz, ist aber eine reale Geschichte. Diese bunte Crew managt seit heuer das Roseggerhaus auf der Pretul und steht vor dem ersten Winter. 

Christoph Heigl
Christoph Heigl

Georg Kaltenhäuser spitzt aus seiner Küche heraus. Als Kölner ist er um ein schnelles Wort nicht verlegen. Was ihn hier heroben am meisten überrascht? „Dass wir in drei Monaten 3000 Kaspressknödelsuppen machen, hätt ich mir nie träumen lassen“, lacht der Koch. Er ist der Sommer-Neuzugang im Hüttenteam, das seit dem Eröffnungstag am 26. Juni das Roseggerhaus leitet. Nachsatz: „Am Berg haben die Leut halt immer Hunger.“

Wir sind hier auf 1588 Meter Seehöhe auf der Pretul in den Fischbacher Alpen, quasi am Bergrücken zwischen dem Mürztal und der Oststeiermark. Exakt 127 km und 1:49 Stunden Autofahrt entfernt vom 4. Wiener Gemeindebezirk und dem Schikaneder-Kino in der Margaretenstraße. Warum das wichtig ist? Es sind die Betreiber jenes kultigen und ehrwürdigen Kinos, eines der ältesten Wiens, die jetzt auf Almwirt machen. „Schikaneder goes Alps“, so hat es der „Falter“ formuliert. 

Wir schauen aus dem Fenster und sehen: nichts. Nichts und Windräder. Ersteres, weil man einen unglaublichen Fernblick von heroben hat (und zugegeben, weil es heute gar nicht so wenig regnet), kein höherer Berg in der Nähe steht und die freie Almenlandschaft rundherum erst ein paar Höhenmeter tiefer in bewaldete Zonen übergeht. Und Zweiteres, weil in den letzten Jahren mehrere Windparks entlang des langen und sanften Bergkamms vom Stuhleck bis zur Stanglalm entstanden sind. Die riesigen Windräder in Dutzendschaft sind spektakulär. Joachim Wegenstein schaut hinaus. „Ich bin ja mehr der Meertyp“, gesteht er mit ruhiger Stimme, „aber dieser Ausblick hier hat einen enormen Entspannungsfaktor.“ An guten Tagen sieht man im Südosten bis Pinkafeld, oder Oberwart, genau hat das noch keiner ergründet, angeblich bis zum Neusiedler See. Doch wer will weit weg, wenn es vor der Haustür schön ist. „Der Eindruck der Windräder ist in der Nacht am imposantesten, wenn die vielen roten Blinklichter an sind.“

Von Wien in den Windpark, wie kam es überhaupt so weit? Teil eins der Erklärung. Die Schweizer Zwillingsbrüder aus dem Vorspann sind Joachim Wegenstein und sein Zwillingsbruder Johannes („Er ist der Bekanntere“), in Zürich geboren, schon mit sechs Jahren als Buben nach Wien übersiedelt. Johannes sammelte enorme Lebenserfahrung, als Student der Theologie und Philosophie, im Stift Klosterneuburg, Priesterwunsch inklusive, später in der Wiener Kultur- und Veranstalterszene, letztlich als Kino- und Gastrobetreiber im „Schikaneder“. Bruder Joachim, beide sind identische 58 Jahre alt, ist Techniker, war 15 Jahre als Bauleiter für Architekten tätig und begann dann vor rund 15 Jahren, sich als Geschäftsführer um die Finanzen der Familienunternehmungen zu kümmern. So weit, so gut. Heuer im März der plötzliche Lockdown.  

„Wir brauchen zusätzlich einen Plan B, einen Rettungsanker“, wussten beide. Über eine steirische Bekannte erfuhr man von der Schutzhütte auf der Pretul, wo die Naturfreunde Ratten als Besitzer händeringend nach einem neuen Pächter suchten. Mit null Bergerfahrung, aber vielen Jahren im Wiener Gastrobereich begannen die Kalkulationen: Fixkosten, Personalkosten, Umsatz. „Vor uns gab es einen perfekten Langzeitpächter und dann Interimslösungen, die zu romantische Vorstellungen vom Hüttengeschäft hatten und es wohl schlicht unterschätzt haben“, hat sich Joachim Wegenstein erzählen lassen. Das passierte ihnen nicht. „Wir wussten, wir sind wetterabhängig und es ist viel, viel Arbeit.“

Das Team ist bunt. Neben Johannes Wegenstein und seiner Frau Lisa sowie Joachim Wegenstein hat es aus den kolumbianischen Anden Rodolfo Restrepo und Hector Lopez auf die Pretul verschlagen (beide waren zuvor schon in Wien tätig), den Hamburger Schauspieler und Tischler Andreas Hannig, den Koch Georg Kaltenhäuser aus Köln, die ungarische Köchin Anett Ver und bisweilen weitere Kräfte und Helfer. „Das war keine bewusste Auslese. Das hat sich alles so ergeben“, so Wegenstein. „Unsere größte Sorge war aber“, lacht er, „dass wir hier als Fremdkörper wahrgenommen werden. Als Wiener ist man in Österreich halt nirgends beliebt. Nicht tragisch, als Wiener lebt man damit.“ In den steirischen Bergen war ohnehin das Gegenteil der Fall. „Und mein Bruder sagt gerne: Auch Wiener san nur Menschen.“ 

Das Haus ist top in Schuss und der Komfort hoch. Aber manchen Gästen muss man  sagen, dass wir eine Schutzhütte sind und nicht das Hotel Sacher.

Joachim Wegenstein

Die bunte Crew, der Wiener Schmäh und erste Umsetzungen des geplanten Kulturprogramm in der Hütte (Lesungen, Filmvorführungen, DJs, Sport- übertragungen etc) kommen gut an. Kann man nach vier Monaten und vielen Tausend Kaspressknödeln schon eine erste Bilanz ziehen, ob sich das Risiko gelohnt hat? Jetzt kommt keine schnelle Antwort. „An guten Sonntagen sind wir mit 150 bis 200 Gästen ziemlich voll, da spielt es sich zwischen 11.30 und 16 Uhr ganz schön ab. Es hätten aber ruhig noch ein paar mehr dieser Spitzentage sein können“, sagt Wegenstein. „Aber du weißt eh: Der Wiener jammert immer. In ganz Wien gibt es kein Geschäft, das gut läuft.“

Augenzwinkern. Es läuft gut an, Luft nach oben sei aber noch da. Der „Erfolg“ wird bei den Schikaneder-Machern aber auch anders bewertet. „Das ist hier eine ganz andere Art von Gastro als in Wien. Hier habe ich Zeit, mit jedem Gast mindestens drei, vier Sätze zu wechseln. In Wien undenkbar. Und hier habe ich das Gefühl, in einem Urlaubsdomizil zu arbeiten. Ich setz mich nach der Arbeit vor die Hütte oder geh spazieren. Das hat echte Lebensqualität.“ Apropos Qualität: 49 Betten hat das Roseggerhaus, davon einige in Komfortzimmern mit Dusche, 24 im Matratzenlager. „Das Haus ist top in Schuss und der Komfort hoch. Aber manchen Gästen muss man trotzdem sagen, dass wir eine Schutzhütte sind und nicht das Hotel Sacher.“

Im Stiegenhaus hängen Bilder aus der Geschichte der Hütte und der Umgebung. Etwa vom Mürzzuschlager Schustermeister Franz Nagl, der als erster Skilehrer Mitteleuropas gilt. Die Pioniere Max Kleinoscheg und der Mürzzuschlager Gastwirt Toni Schruf hatten am benachbarten Stuhleck schon 1892 so etwas wie die erste Skitour unternommen. Hier ist also eine Wiege des Skisports. „Im Winter werden wir nach einer kurzen Pause im November fix offen haben, wir erwarten viele Skitourengeher“, freut sich Wegenstein über die Wintersportler genauso wie im Sommer über die vielen Mountainbiker (E-Bike-Ladestation beim Haus), Wanderer, Familien, Pensionisten und Pilger. „Unser erster Winter bringt hoffentlich viel Schnee, dann wollen wir den letzten Abschnitt der Mautstraße als Rodelbahn anlegen.“ Denn die ­Wegensteins haben sich dafür extra ­etwas angeschafft, das wohl die wenigsten Kinobesitzer in Österreich haben: ein Pistengerät. 

Wiener Melange: Eine bunte Crew betreibt eine Hütte in den steirischen Bergen

Das Roseggerhaus
Das Roseggerhaus wurde als Schutzhaus im Jahr 1900 gegründet, liegt auf 1588 Meter Seehöhe im Ortsgebiet von Ratten (Bezirk Weiz) und ist ein Haus der Naturfreunde Ratten mit Obmann Martin Schwarhofer. Die Hütte wurde 1989 durch einen Brand zerstört und 1990 neu errichtet. Sie ist über viele Wanderwege von Ratten, Rettenegg, Mürzzuschlag und vom Alpl aus erreichbar. Die Zufahrt ist auch mit Mountainbikes oder Autos (Mautstraße) möglich. Hüttenpächter ist der gebürtige Züricher Johannes Wegenstein, der in Wien zwei Kinos betreibt.

Website   
roseggerhaus.naturfreunde.at
www.roseggerschutzhaus.com
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rosegger.schutzhaus@schikaneder.at
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