Als der Sommer 2020 so richtig gut im Saft stand, die Tage noch brütend heiß, die Seen wohlig temperiert und draußen die Menschen an Felswänden hingen oder eifrig Gedichte für Gipfelbücher fabrizierten, kam die Bitte um eine essayhafte Auseinandersetzung mit dem Thema „Skitouren und welche Auswirkungen Corona aufs Skitourengehen haben wird“.

Schnee
Stephan Skrobar

„Gerne!“ Denn das Thema schien klar. Die Auswirkungen waren im meinem Kopf eindeutig und die sommerlichen Gespräche mit Vertretern der skiproduzierenden Industrie unterstützten meine Annahmen. Dann wurden die Tage kürzer, die Abende kühler, die Seen kälter, die Finger beim Klettern klammer und die Gipfel einsamer. Und auf einmal war mir gar nicht mehr so klar, wie diese für uns als Gesellschaft so lebensverändernden neuen sozialen Rahmenbedingungen das Skitourengehen prägen werden.

Oberflächlich erschien mir logisch, dass sich der Skisport eher weg von den überfüllten Pistengebieten und den Moshpits des Wintertourismus – den Après-Ski Hütten und Liftschlangen – bewegen wird. Man wird stolz von dem anlassbezogenen „Rückzug zum Wesentlichen“, dem „Ausbrechen aus dem Hamsterrad“, der „Auseinandersetzung mit sich selbst“ und vor allem „der Suche nach Ruhe“ schwärmen und kann diesen Gründen auch gleich einen Hashtag voransetzen, praktisch.

Aber wird das wirklich so sein? Ja, natürlich. Zunehmen wird die Zahl der Skitourengeherinnen und -geher schon, das hat schon der Berg-sommer 2020 bewiesen. Aber bevor ich einen persönlichen Blick auf „Skitouren im Apokalypsenwinter 20/21“ werfe, habe ich mir überlegt, warum ich das eigentlich so gerne mache?

Erstens. Ich verdiene damit mein Geld. Es ist mein Beruf als Leiter eines Freeride- und Alpincenters, mit Menschen aus allen soziodemografischen Schichten mit Ski über die Berge zu gehen. Und auch wenn ich das seit über einem Jahrzehnt mache, danke ich Ullr, dem Gott des Winters in der nordischen Mythologie, immer noch täglich, so einen geilen Job zu haben. 

Zweitens. Es macht unglaublich Spaß. Es gibt wenig an dem Thema, das ich nicht als vorteilhaft für das tägliche Leben sehe. Draußen in der Natur, das Erleben von Kälte und Schnee, die langsame und schnelle Bewegung, das Ausputzen des Hirns, die weiche Ruhe einer schneebedeckten Landschaft und das Gefühl, nach einem langen Tag die Skischuhe auszuziehen. Mit den Worten des großartigen Glen Plake: „There’s no better way to waste time than a day skiing.“ Und aus der Kombination von Beruf und Privatvergnügen ergeben sich regelmäßig notwendige Trainingstouren, bei denen ich alleine unterwegs bin um meine Sinne für alle alpinen Eventualitäten zu schärfen, um dann mit Kunden in Extremsituationen nicht die Nerven zu schmeißen.

Wir nehmen an, dass die Zahl der Skitourengeher zunehmen wird und zwar coronabedingt in einem stärkeren Ausmaß, als dies die letzten Jahre eh schon geschehen ist. Was bedeutet das für die Szene? Ein interessanter Aspekt an diesen Kreisen ist ja, dass Skitourengeher Individualität und Distanz zur Masse als Merkmal vor sich hertragen. Daraus resultieren – auch schon lange vor Corona – Situationen, in denen eine durchaus signifikante Menge an Individuen auf einmal eine ziemlich homogene Masse ergibt, die in den gleichen Outfits, mit den gleichen Materialen die gleichen Gipfel besteigt und in gleicher Sprache darüber spricht. Ich nehme mich da in keiner Weise aus, sondern trage beruflich dazu bei.

Einige Skitourengeher, die sich übrigens demografisch leicht eingrenzen lassen, tun sich mit dem Schritt ihrer Sportart in den Mainstream leider etwas schwerer. Provinzialismus und Territorialismus treten ausgeprägt auf und manifestieren sich durch schroffes, oft unfreundliches Auftreten, das gerne sozialromantisch als knorrig-berglerisch dargestellt wird. Wie gesagt, es sind nur wenige, und die lassen sich oft schon aus der Ferne ausmachen. Denn insgesamt sind die Skitourengeherinnen und -geher ein offenes, freundliches Völkchen, das gerne auf seine Mitmenschen Rücksicht nimmt und die Koexistenz am Berg der einsiedlerischen Einsamkeit vorzieht. Und – ich erwähne es aus Gründen noch mal – Rücksicht aufeinander nimmt.

„Was hat das mit Corona zu tun, Skrobar?“, mag sich die Leserin, der Leser spätestens jetzt fragen. Corona verlangt wie das Skitourengehen ein Sozialverhalten, das sich in der Rücksichtnahme auf seine Mitmenschen begründet. Viele werden mit dem Skitourengehen beginnen, weil die eingangs erwähnten Hashtaggründe nicht nur klischeehaft sind, sondern vor allem auch der Realität entsprechen. Mit Ski übern Berg gehen ist für Kopf und Körper eine der schönsten Tätigkeiten. Einige wenige werden allerdings – eben eventuell coronabedingt – mit dem Tourengehen beginnen, um dort ihre Individualität und „persönliche Freiheit“ zu finden, und so die sozialen Regeln der Rücksichtnahme, die die Pandemie notwendig macht, lautstark ignorieren. Wer im täglichen Leben die absolute Erfüllung der eigenen Bedürfnisse als viel wichtiger als die Rücksicht auf seine Mitmenschen sieht, der wird sich hoffentlich in der Skitourenszene nicht wohlfühlen.

Es gibt beim Skitourengehen selbstregulierende Elemente, die Menschen die Einsamkeit und Distanz zu den Massen ermöglichen. Das eine ist die notwendige Technik, die für Aufstieg und vor allem Abfahrt Voraussetzung ist, und das zweite, und meist wichtigere, sind die Skills des alpinen Risikomanagements und der Tourenplanung. Beide verlangen langjährige, nie endende Lernprozesse. Die Motivation ist jedoch bei Einsteigern wie Profis die gleiche, so sollte es auch bei der Toleranz gehalten werden. Wir sollten die positiven Aspekte des rücksichtsvollen Verhaltens beim Skitourengehen in den Umgang mit der Pandemie mitnehmen.

Geschrieben im September 2020