Jesse Marsch, Erfolgstrainer des FC Red Bull Salzburg, vergleicht seine US-Heimat mit Europa. Welches Ligen-System ihm mehr taugt, wo Europa hinterherhinkt, warum er noch lange hier bleiben will. Und er gibt Salzburg eine Garantie.

Markus Geisler


Jesse, Sie gelten als überaus optimistischer, positiver Typ – typisch amerikanisch?
Jesse Marsch: (Lacht) Ich schätze schon ... Ich weiß noch, wie ich in Deutschland zum ersten Mal meinen Ansatz von Fußball erklärt habe. Dort ist alles pragmatischer, logischer, strukturierter, alles folgt gewissen Regeln. Einfach anders. Das soll jetzt nicht falsch rüberkommen, aber ich gelte auch in den USA nicht als normaler Typ, sondern als überdurchschnittlich positiver Mensch. Ein Teil meiner Persönlichkeit besteht aus Selbstvertrauen und daraus, ein positives Umfeld zu schaffen, in dem meiner Meinung nach Leistung am besten entstehen kann. Wo jeder das Beste aus sich herausholt und das auch von den anderen fordert. Das benötigt Energie, Positivität und auch Fröhlichkeit.

Ist Österreich demnach Deutschland ähnlicher oder den USA?
Tatsächlich ähnlicher den USA. Die Menschen haben eine logische und rationale Art zu denken, tun das aber in einem entspannten und positiven Umfeld. Das ist mir gerade in Zeiten der Corona-Krise aufgefallen.

Was meinen Sie?
Die Regierung hat meiner Meinung nach gute Entscheidungen getroffen, die Menschen sind diesen Entscheidungen gefolgt und haben dabei einander unterstützt. Da ist ein richtiger Gemeinschaftssinn entstanden. Das war ein großer Vorteil, um das Problem zu lösen. In Deutschland ist alles viel strikter, dort werden absolut alle Regeln befolgt, ohne rechts und links zu schauen. Auch ein erfolgreicher Weg, keine Frage. In den USA geht es dagegen mehr um Individualismus, um den Einzelnen, jeder hat seine eigenen Ideen. Womöglich würde es den Menschen dort guttun, wenn es ein System gäbe, in dem man den Regeln mehr folgt.

Zurück zum Sport. Ist mein Eindruck falsch, dass der viel tiefer in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist als bei uns?
Die Leidenschaft für den Fußball ist in Deutschland unglaublich speziell! Dort ist die Fankultur besser als alles, was ich auf der Welt gesehen habe. Das macht die Bundesliga so einzigartig. Es ist aber auch ein Land, das klar von einer Sportart dominiert wird, dem Fußball. In den USA ist das Interesse viel breiter. US-Anhänger sind auch fanatisch, aber sie teilen ihre Leidenschaft auf zwischen American Football, Basketball, Baseball, Eishockey, Fußball und anderen olympischen Sportarten. Was die Amerikaner definitiv haben, ist das Selbstbewusstsein, immer und in allem die Besten der Welt sein zu wollen. Das zeigt sich in der Art, wie wir generell über Sport denken.

In den USA spielt Sport schon an den Schulen eine große Rolle, hier wird seit Jahren über die tägliche Turnstunde diskutiert.
Das könnte mit den politischen Strukturen zusammenhängen. In Österreich gibt es eine faire Chancenverteilung, wie die Kinder aufwachsen. In den USA, wo der Kapitalismus noch ausgeprägter ist, gibt es immer diesen Wettbewerb untereinander, das Vergleichen, jeder will besser sein als der andere. Das fängt in der Schule an, ist so im Geschäftsleben, im Sport, in allen Bereichen. Es geht immer ums Gewinnen. Das macht die USA stark, färbt aber auch auf die Gesellschaft ab. In meinen Augen ist unsere größte Stärke gleichzeitig auch unsere große Schwäche.

Wenn US-Amerikaner zu einem Sportevent gehen, wirkt es eher wie ein gesellschaftliches Ereignis. Essen, trinken, tratschen ... Hierzulande steht das Spiel mehr im Mittelpunkt und vor allem der Wille, dass das eigene Team gewinnt. 
Do you agree?

Oh, da müssen wir differenzieren. Ich gebe Ihnen recht, wenn wir etwa vom VIP-Klub der L.A. Dodgers sprechen. Da geht es um sehen und gesehen werden, gutes Essen und, ach ja, ein Spiel findet auch noch statt. Reden wir aber über ein Spiel der Green Bay Packers, ein Team aus meiner Gegend, ist es ganz anders. Da geht es den Fans ausschließlich ums Gewinnen. Das könnte daran liegen, dass es bei uns in Wisconsin immer sehr kalt ist, die Leute weniger Geld haben – dementsprechend bedeuten die Packers den Leuten mehr als in Kalifornien, wo es mehr Geld und immer Sonne gibt (lacht).

Sie haben mal gesagt, dass die USA in Sachen Gleichberechtigung im Sport viel weiter sind als wir in Europa.
Das stimmt, ich sehe das unter anderem bei meiner Tochter, die auch Fußball spielt. Mädchen haben viel mehr Möglichkeiten im Sport erfolgreich zu sein als in Europa. Ich habe den Eindruck, dass diese Gleichbehandlung in Amerika viel mehr eingefordert wird. Und ich bin froh, dass es so ist (lacht). Und ich kann versichern: In unserem Haus passiert nichts, was gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen würde.

Sport in den USA lebt vom System der Play-offs, der Post-Season, in Europa setzt man auf ein Liga­system mit Endtabelle. Was gefällt Ihnen besser?
Ich persönlich bevorzuge das europäische System, weil es den Faktor Zufall mehr ausschließt, wer am Ende den Pokal in Händen hält. Es war oft so, dass wir im Grunddurchgang die beste oder fast die beste Mannschaft waren, in den Play-offs aber frühzeitig, manchmal mit Pech, ausgeschieden sind. Glauben Sie mir, ein schreckliches Gefühl. Aber das ist typisch amerikanisch, ich nenne es den Superbowlismus. Am Ende einer Saison muss das letzte Spiel das Größte sein, das, in dem alles entschieden wird. Das ist tief in unserem Denken über den Sport verwurzelt. Aber wenn wir ehrlich sind: Bei der WM oder in der Champions League ist es ja genauso.

Die Leidenschaft für den Fußball ist in Deutschland unglaublich, absolut speziell! 

Jesse Marsch

Sie leben seit zwei Jahren in Europa. Sind Sie sich sicher, dass Sie eines Tages komplett in die USA zurückkehren werden?
Gute Frage, das war in den Ferien nach der Saison in unserer Familie ein großes Thema. Fakt ist: Wir können uns vorstellen, noch eine lange Zeit in Europa zu bleiben. Der way of life, die Vielfalt, die Kulturen, wir genießen das wirklich.

Ihre herausragende Arbeit wurde auch woanders registriert, Borussia Dortmund soll interessiert gewesen sein. Hand aufs Herz: War das ein Thema für Sie?
Für jeden, der hier arbeitet, gilt: Irgendwann kommt der nächste Schritt. Ich mag diesen Ausdruck, weil er sehr präzise die Situation beschreibt. Wenn ich in diesem Business, egal wo, etwas gelernt habe: Je mehr du dich darauf konzentrierst, was du im Moment tust, desto größer ist die Chance, dass du erfolgreich bist. Und je größer der Erfolg, desto höher die Chance, dass du etwas Größeres machen kannst. Eines möchte ich aber klar betonen.

Nur zu.
Vom ersten Tag in Salzburg war mein Gedanke: Das hier ist mindestens, ich betone: mindestens, ein Zweijahresprojekt. Was dann passiert: you never know. Vielleicht sagt der FC Red Bull Salzburg ja: Jesse, wir möchten noch fünf Jahre mit dir arbeiten. Was ich toll finden würde, denn ich liebe es hier. Die Menschen, das Team, das Umfeld – großartig!

Heißt: Dass Sie die kommende Saison hier beenden, ist von Ihrer Seite aus sicher.
Ja! Zu 100 Prozent.