Was es mit Dysbalancen auf sich hat, woher sie kommen und wie man sie im besten Fall von Vornherein vermeidet.

Lukas Schnitzer
Lukas Schnitzer

Wie das Yin und Yang braucht auch unsere Muskulatur ihren Ausgleich, um den Körper optimal und dauerhaft schmerzfrei in Bewegung zu halten. Die ein Gelenk bewegenden Muskeln, gerne als Spieler und Gegenspieler oder medizinisch Agonist und Antagonist bezeichnet, wollen, genauso wie die rechte und linke Körperhälfte, in einer biomechanisch optimalen Kraftbalance gehalten werden. Meistert man besagtes Spiel mit dem muskulären Gleichgewicht nicht, können sogenannte Dysbalancen auftreten. Sprich: Eine häufig belastete Muskelpartie wird dominant, ihr vernachlässigter Gegenspieler bleibt im Verhältnis dazu zu schwach. Bürohengste trifft so schon mal die Mausschulter, vom übermäßigen Sitzen wird der Hüftbeuger überaktiviert und das Gesäß schwächt ab, auf den Sport übertragen mag ­vielleicht der fleißige Bankdrücker Haltungs- und Schulterprobleme ­bekommen, sorgt er nie mit Zugbewegungen für Ausgleich. Wird also ein Muskel zu stark, ohne einen vergleichbar starken Gegenspieler zu haben, steht der Körper vor einem Problem. Technisch falsche Ausübung von Sport- und Alltags-Bewegungen kann hier genauso mögliche Ursache sein wie Trainingseinheiten oder Sportarten, die die Muskulatur zu einseitig belasten.

Läuft doch eh?
Wer jetzt denkt: „Als Läufer halte ich doch eh meinen ganzen Körper in Schwung“, der irrt. Denn lange Dauerläufe genauso wie knackige Intervalle oder Bergsprints sind, auch wenn es sich anders anfühlen mag, eine sehr einseitige Bewegung. Im Laufschritt findet die ­Bewegung vorrangig vor und zurück, also in der sogenannten Sagittalebene statt. Die beiden anderen Bewegungsebenen, namentlich Frontal- und Transversalebene respektive die hier aktiven Muskelgruppen, bleiben zurück. Oberschenkel- und Wadenmuskulatur werden stärker, andere, wie Schienbein- oder Gesäßmuskulatur schwächen ab. Knieschmerzen, Muskelfaser­risse, Achilles-Probleme oder Piriformissyndrom gelten unter Läufern als mögliche Folgen.

Läufers häufige Schwachstellen
Allgemein unterscheidet die Physiologie funktionell zwischen Haltemuskeln (tonisch) und Bewegungsmuskeln (phasisch). Erstere leisten vorrangig Haltearbeit und neigen zu Verkürzungen. Zweitere sind vorrangig für dynamische, kraftvolle Bewegungen gemacht und neigen zur Abschwächung.

Ein Bereich, in dem wohl ein Gros der Läufer zu Schwächen neigt, ist die Rumpfmuskulatur. Wir sprechen hier nicht (nur) vom gerne fokussierten Sixpack, sondern der gesamten die Wirbelsäule stabilisierenden Muskulatur der Körpermitte, also Bauch, unterer Rücken, ­Gesäß und Teile des hinteren Oberschenkels. Sie verbinden Ober- mit Unterkörper, sind sie im Ungleichgewicht, leidet die Körperhaltung, die Laufökonomie, die Kraftübertragung und Biomechanik und sogar die Atmung können beeinträchtigt werden. Eine schwache phasische Bauchmuskulatur kann beispielsweise dem im Lendenbereich tonischen Rückenstrecker nicht entgegenwirken, was ein Hohlkreuz provoziert, ein abgeschwächter phasischer Gluteus und ein verkürzter Hüftbeuger erschweren die Aufrichtung des Körpers und die Hüftstreckung. Schwächen im Hüft- und Gesäßbereich gelten oft als Ursache für ein Läufer-Knie oder andere Knie-Probleme. Auch die Abduktoren und Adduktoren der Hüfte und ein Ungleichgewicht zwischen tonischer Wadenmuskulatur und phasischer Schienbeinmuskulatur (Tibialis Anterior) sowie der Schultergürtel gelten als Schwachstellen.

Handlungsbedarf
Bei echten Schmerzen kommt man um den Gang zur professionellen Therapie nicht herum. Und auch allgemein kann etwa ein FMS (Functional Movement Screen) oder ähnliche Testmethoden inklusive Beratung durch einen Physiotherapeuten oder Orthopäden nie schaden. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich vermutete Dysbalancen bei frühen Anzeichen aber auch noch selbst behandeln. Wichtig ist, die betroffenen Muskelgruppen zu identifizieren. Grundsätzlich wird dazu geraten, erst Verkürzungen und Verspannungen zu behandeln, den Tonus zu reduzieren und Beweglichkeit wiederherzustellen, ehe abgeschwächte phasische Muskeln gezielt aufgebaut werden. Wir zeigen euch im folgenden Übungen, mit denen sich vielen typischen Läufer-Dysbalancen bereits im Vorfeld entgegenwirken lässt.