„Das E-Mountainbike gibt mir Freiheiten zurück“ – sagt Matthias Lanzinger. Der ehemalige Skirennläufer und neunfache Medaillengewinner im Para-Skisport übers Biken und E-Biken sowie den Bike-Boom in ­Zeiten von Unsicherheit und ­Veränderung.

Von Thomas Polzer und Christof Domenig

Mit 27 hatte der ehemalige Junioren-Skiweltmeister und ÖSV-Athlet Matthias Lanzinger einen Podestplatz im Weltcup zu Buche stehen, als sein Sturz im Super-G von Kvitfjell sein Leben veränderte: Die Beinverletzung war so schwer, dass ihm der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Schon damals galt der Salzburger als einer, der nicht mit dem Schicksal haderte: Er begann zu studieren, stieg zugleich ins Berufsleben ein und legte ab 2011 eine „zweite Karriere“ im Para-Skisport hin, die er mit neun Medaillen krönte.

Mit 40 ist Lanzinger erfolgreich im Ski-Marketing tätig sowie gefragter Vortragsredner mit den Schwerpunkten mentale Stärke und Resilienz. Er ist aber auch mit Leidenschaft Familienvater und begeisterter E-Mountainbiker. Wir haben ihn an einem Märztag bei Schneefall und Regen getroffen (die ersten Outdoorbilder mit seinem brandaktuellen Rad hat er nachgeliefert). Aber mit einem Matthias Lanzinger bekommt auch das Wetter als Gesprächsthema eine tiefere Bedeutung.

Matthias, du hast soeben dein Bike neu gekriegt. Was ist es für ein Gerät?
Ja, ich hab es gestern Abend bekommen, und es ist quasi das erste E-MTB von GASGAS Bicycles in der freien Wildbahn (Anm.: die Marke, die man für Geländemotorräder kennt, erweitert ihr Sortiment um E-Mountainbikes). Es ist ein GASGAS Trail Cross 7.0 mit kräftigem Yamaha-Motor, 70 Nm Drehmoment und einem 500 Wattstunden-Akku. Bei ersten kurzen Probefahrten hat es sich schon super angefühlt. Mehr als genug für meine Ansprüche.

Was ist generell das Mountainbike bzw. E-Mountainbike für dich: mehr Trainings- oder mehr Spaßgerät?
Als aktiver Skirennläufer bin ich stundenlang am Rennrad für die Grund­lagenausdauer gesessen, und für die kürzeren, intensiveren Einheiten hab ich das Mountainbike verwendet. Wobei mich das Mountainbike immer mehr fasziniert hat, weil ich gern in der Natur war. Also: Bergauf war es Mittel zum Zweck und bergab war immer schon der Faktor Spaß dabei. Speziell durch das E-Mountainbike hab ich seit meinem Unfall viele Freiheiten zurückbekommen, das war und ist eine große Sache für mich: Längere Strecken waren mit dem normalen Mountainbike und mit der Prothese nicht mehr möglich oder ab einer ge­wissen Wattzahl zu schmerzhaft. Jetzt kann ich Grundlageneinheiten mit dem E-Bike machen genauso wie lange Touren unternehmen, und ich kann mit meiner Familie und den zwei Töchtern das Erlebnis Natur und Berg genießen.

Wie viele Kilometer und Höhenmeter kriegst du im Jahr zusammen?
Darauf schau ich eigentlich nie. Sondern eher auf die Häufigkeit der Touren: Im Schnitt bin ich vom Frühjahr bis in den Herbst zweimal in der Woche unterwegs. Wenn das Wetter passt, auch häufiger und der Genuss steht immer im Vordergrund. Wenn zum Beispiel am Wochenende die ältere neunjährige Tochter mit der Mama auf den Berg geht, dann fahr ich oft gleichzeitig mit der Einjährigen im Fahrradhänger rauf und wir treffen uns oben bei der Hütte und können so das Erlebnis teilen.

Als Skirennfahrer und auch Motorradrennfahrer bist du sicher „materialaffin“, oder? Auch beim Bike?
Beim Auto und Motorrad hat mich die Technik schon immer interessiert. Als Rennrad und Mountainbike noch reine Trainingsgeräte waren, hab ich mich eher an meinen Vater gehalten, der hat immer gesagt: „Wennst ein schlechtes Radl hast, trainierst besser als die anderen.“ Mit den E-Bikes hat mich die Technik aber zu interessieren begonnen. Wie spricht der Motor an, wie geschmeidig setzt er ein, wie lange hält der Akku? Was steckt generell an Technik drin und wie kann ich sie am besten für mich nutzen? Mit der Integration der Akkus in den Rahmen ist mittlerweile auch die Ästhetik bei den E-Mountainbikes eingekehrt.

Um beim Vergleich mit Skifahren zu bleiben: Dich fasziniert dort die Kurvendynamik mehr als die Geschwindigkeit, hast du einmal gesagt. Lässt sich fahrdynamisch vom Skifahren etwas aufs Biken übertragen?
Das stimmt, es ist mir nie um den Speed, sondern ums Erleben einer perfekten Kurventechnik gegangen. Man braucht Gespür für die Linienwahl und das Spiel mit den Fliehkräften hat etwas Faszinierendes. Beim E-MTB sind auch die richtige Kurventechnik und das richtige Einschätzen der Linie hochinteressant. Mir taugt auch das koordinative Lernen, die „Augen-Hand-Körper-Koordination“, beim Rauffahren wie beim Runterfahren. Wenn man sich auf einem schwierigen Trail die richtige Linie erst anschauen muss oder wenn man mit ­wenig Geschwindigkeit die Balance halten muss: Bei all dem gibt es klare Parallelen zwischen Skifahren und Biken.

Früher habe ich mir gesagt: "Mit einem schlechten Radl trainierst du besser." Mit den E-Bikes hat mich auch die Technik zu interessieren begonnen.

Matthias Lanzinger

Der Begriff „Flow“ ist schon ordentlich strapaziert. Wenn du so erzählst, klingt das aber ganz nach dem „vollständigen Aufgehen im Tun“.
Im Alltag haben wir ständig so viele Eindrücke, von denen wir einen Großteil gleich einmal wegfiltern müssen. Beim Skifahren und genauso beim Biken ist man dagegen voll fokussiert auf die eine Sache und kann links und rechts alles ausblenden. Das ist für mich wie Meditation. Dieses Aufgehen in der Natur und im Tun ist für mich schon ganz klar ein Hauptmotiv, warum ich so gerne am Bike sitze.

Die Coronazeit hat ja einen Bikeboom ausgelöst. Denkst du, ist das Bike für viele ein „Fluchtgerät“ vor dem Alltag geworden? 
Ich glaube zunächst, dass viele ihre neu gewonnene Zeit genutzt haben, um endlich wieder raus in die Natur zu kommen. Oft hatte man ja so viele Dinge um die Ohren, dass man sich für ein paar ruhige Stunden in der Natur gar nicht die Zeit genommen hat. Mit der Coronazeit sind die Möglichkeiten für viele plötzlich wieder offengestanden. Viele Menschen haben wohl auch deshalb die Natur für sich entdeckt oder wiederentdeckt, weil auch das riesige Portfolio an sonstigen Freizeitaktivitäten und damit der „Freizeitstress“ deutlich abgenommen haben. Das merkt man beim Skitourengehen im Winter oder beim Wandern im Sommer und eben auch bei Mountainbike und E-Bike. 

Wie gehst du selbst mit den Unsicherheiten und Wirren der Coronazeit um?
Mir war immer schon bewusst, was meine Wertigkeiten im Leben sind: Die Zeit mit der Familie zu schätzen und zu genießen. Klar: Wirtschaftlich war und ist die Zeit auch für mich eine Herausforderung. Ich habe auf Events und Vorträge lange hingearbeitet, die dann von einem Tag auf den anderen abgesagt wurden. Auch die Umstellung auf Homeschooling und darauf, den Beruf von zu Hause aus zu machen, waren nicht einfach. Wir haben bei uns zum Glück die Möglichkeit, vor die Tür zu gehen und gleich in der Natur zu sein. Obwohl ich beruflich auch ständig auf Skiern unterwegs bin, war für mich das private Skifahren jetzt im Winter sehr wichtig. Mit der Familie macht es mir richtig Spaß, vor allem, seit mit meiner älteren Tochter schon richtig lässige Skitage und sogar leichte Skitouren funktionieren. Jetzt kommt eben der Wechsel auf die Bikes, da freu ich mich schon sehr drauf.

Mir war immer bewusst, wo meine Wertigkeiten im Leben sind: bei der Zeit mit der Familie.

Matthias Lanzinger

Wenn man deine Homepage aufmacht, steht als Erstes: „Veränderung bedeutet nicht gleich Verschlechterung, sondern bringt neue Chancen.“ Passt ganz gut als Motto in so eine unsichere Zeit wie jetzt, oder? 
Es ist ein Grundsatz von mir. Viele sehen eine Veränderung im Leben oft negativ, aber ich glaube, es ist wichtig, dass man den Blickwinkel ändert. Mit jeder Veränderung entstehen auch neue Möglichkeiten, die gilt es zu suchen und zu finden. Natürlich war der Satz auf meinen Unfall gemünzt, diese wirklich einschneidende Veränderung, wenn plötzlich dein ganzer roter Faden im Leben, der grundsätzliche Plan nicht mehr funktioniert. Und dann zu sehen, es gibt neue Möglichkeiten, und die Veränderung anzunehmen und auch positiv zu nutzen. Nicht zu hadern, sondern den neuen Standpunkt als Ausgangslage zu betrachten und zu schauen, wie man den Standpunkt möglichst positiv für sich nutzen kann: Das ist einer der Hauptfaktoren für Resilienz. Mir selbst ist das zum Glück immer gut gelungen.

Du hältst Vorträge zu Resilienz und mentaler Stärke. Hast du dir diese Eigenschaften durch deinen Unfall 2008 angeeignet oder waren sie immer schon Teil deiner Persönlichkeit? 
Gewisse Dinge habe ich sicher immer schon gehabt. Ich habe mich zum Beispiel nie über das Wetter aufgeregt und bei Wettkämpfen oft bei schlechten Bedingungen die besten Resultate erzielt. Weil ich ja sowieso keine Möglichkeit habe, das Wetter zu verändern, sondern nur das beste aus der Situation machen kann. Generell habe ich mich mit etwas, was ich nicht selbst in der Hand habe, nie lange befasst. Analysieren, Zusammenhänge verstehen und aus Niederlagen lernen: das natürlich – aber auch anzuerkennen, was veränderbar ist und was nicht. Mir hätte nach meinem Unfall ja nichts mein altes Leben zurückgebracht. Deswegen habe ich auch nicht auf das geschaut, was nicht mehr möglich war, sondern auf das, was möglich war.

Nicht auf das schauen, was nicht mehr möglich ist, sondern auf die Chancen.

Matthias Lanzinger

Was war das für dich damals zum ­Beispiel?
Radfahren war eines dieser Dinge, das habe ich sogar in der Reha schon leicht genutzt. Wie ich nach Hause zurückgekommen bin, war es mein Ziel, wieder auf meinen Hausberg in Abtenau hinaufzukommen, auf das habe ich wochen- und monatelang hingearbeitet. Dann habe ich von oben heruntergeschaut und es war wieder ein kleiner Meilenstein geschafft. Ich hab gespürt: Wenn ich jetzt auf den Berg heraufgekommen bin, ist vieles Weitere auch möglich.

Welche Rolle spielten und spielen andere Menschen, Familie und Freunde für dich?
Familie und Freundeskreis waren mir immer extrem wichtig und das hat mir auch in der ersten schweren Zeit viel Rückhalt und Unterstützung gegeben. Der Sport war plötzlich weg, aber ich habe mich ja auch früher nie über Ergebnisse im Sport definiert. Mir waren immer andere Werte wichtiger, wie das soziale Umfeld, und das ist mir ja geblieben. Wenn man solche Ankerpunkte im Leben hat, ist man schon einmal sehr gut für Rückschläge und Krisen gerüstet.

Wie ist es zu den Vorträgen gekommen?
Es hat mich bestärkt, wie vielen Leuten ich durch meine Geschichte und meinen Umgang damit etwas mitgeben konnte. Egal, ob jemand schlimmere Schicksalsschläge erlitten hat oder es vermeintliche Kleinigkeiten sind: Die Herangehensweise ist immer ähnlich. Viele kommen zu mir auf der Suche nach einem vitaleren, zufriedeneren Leben und da ist der Sport ein wichtiger Baustein. Meine schon erwähnten Freiheiten, die ich durch das E-MTB gewonnen habe, sind hier natürlich auch ein Thema. 

Glaubt du, wärst du eigentlich ohne deinen Unfall auch beim E-Mountainbike gelandet?
Das ist gar nicht leicht zu beantworten: Vermutlich würde ich noch mit dem normalen Mountainbike fahren. Obwohl ich sagen muss: Die Möglichkeit, mit den Kindern im Hänger die Berge raufzufahren, ist großartig. Vielleicht würde ich auch heute mit dem Mountainbike und meine Frau mit dem E-MTB fahren? Auch das ist ja ein toller Aspekt. Früher sind oft die Männerrunden biken gewesen, jetzt sieht man so viele, die als Paar miteinander unterwegs sind. Auch vom sozialen Aspekt, etwas gemeinsam unternehmen zu können, ist das E-Bike ein enormer Fortschritt.

Sie sagen: "Einer, der es aus reiner Muskelkraft nicht schafft, hat am Berg heroben nichts zu suchen." Ich finde es dagegen toll, dass es mir durch die Technik nicht verwehrt ist.

Matthias Lanzinger

Viele traditionelle Mountainbiker sehen den E-Bike-Boom kritisch, die Kommentare zum E-MTB sind nicht immer freundlich. Wie findest du das?
Wie gesagt: Gerade am Anfang wird bei Veränderung der Fokus oft aufs Negative gelegt. Dass sich viele Menschen durch E-Bikes jetzt mehr bewegen, darüber wird vergleichsweise wenig gesprochen. Sondern lieber darüber, dass manche vielleicht irgendwo hinkommen, wo sie vom Leistungsniveau her überfordert sind oder auch die Geschwindigkeit unterschätzen. Natürlich gibt es auch diese Aspekte und Aufklärung ist wichtig ...

Aber?
Viele sind deshalb dem E-Mountainbike gegenüber skeptisch, weil sie die Berge für sich beanspruchen. Sie sagen: Einer, der es aus reiner Muskelkraft nicht schafft, hat heroben nichts zu suchen. Sie beanspruchen das Terrain, das sie mit ihren körperlichen Möglichkeiten erreichen, für sich selbst. Es gibt jedoch Menschen wie mich, die körperliche Beeinträchtigungen haben, und durch die Technik ist mir das dann nicht mehr verwehrt: Das empfinde ich als tolle Sache. Weil ich einfach immer noch gern auf den Berg heraufkomme. Es ist aber auch viel Anschauungssache und ich glaube auch, dass sich im Denken in dieser Frage in den letzten Jahren schon vieles verändert hat.

Deine größere Tochter bikt vermutlich schon, den Kinderanhänger hast du auch schon erwähnt: Wie schauen ­Familienbikerunden bei dir aus?
Ja, die Kleine sitzt im Hänger, die Große bikt mit. Ich hab für sie übrigens eine kleine Hilfe am Sattel befestigt, eine Schnur mit einem Auszug: Wenn es wirklich steil ist, hängen wir sie an und wenn es wieder flacher wird, fährt sie wieder selbst. Das ist ein tolles Gadget eines französischen Herstellers, wirklich „nice to have“, wenn man mit Heranwachsenden gemeinsam bikt. 

Durch die Kids-E-MTBs sieht man immer mehr komplette Familien mit E-­Bikes: Mama, Papa, Kinder. Würdest du das auch für euch in Betracht ziehen?
Wenn es richtig eingesetzt wird und man damit gemeinsame Familienausflüge machen kann, um das Level aller anzupassen: warum nicht? Ich plane auch jede Tour nach der Schwächsten. Oder wenn ein Kind zum Beispiel auf dem Schulweg über einen Berg muss und das E-Bike die Selbstständigkeit ermöglicht, dann finde ich es auch gut. Wichtig ist, dass man damit umgehen kann.

Was wünschst du dir und den anderen Mountainbikern für 2021?
Vor allem: unfallfrei und gesund bleiben. Ein spannender Sommer steht vor der Tür und den soll jeder möglichst gut genießen können. 

Matthias Lanzinger
Matthias Lanzinger

aus Abtenau (S) ist 40, verheiratet und hat zwei Töchter (9 und 1). Im März 2008, damals 27-jährig, stürzte der ÖSV-Skifahrer im Weltcup-Super-G von Kvitfjell so schwer, dass ihm der linke Unterschenkel amputiert werden musste. Karriereende, ab Herbst 2008 Studium in BWL sowie Sport- und Eventmanagement. 2011 Einstieg in den Para-Skisport, bis 2015 neun Medaillen bei Großereignissen, Highlights: zweimal Silber bei den Paralympics 2014. Lanzinger arbeitet bei Amer Sports (für Salomon Ski) im Marketing, bietet Vorträge und ist begeisterter E-Mountainbiker. 
WEB: www.matthias-lanzinger.at