Wenn es beschwerlich wird, geht man am besten mit leichtem Gepäck. So wie Markus Lipp, der Job, Wohnung und Sicherheiten aufgegeben hat, um ein halbes Jahr auf einer Berghütte zu verbringen. Dort, wo sich Arbeit und Müßiggang vermischen und wo die Abgeschiedenheit die große Freiheit bringt. Mit und ohne Zwiebeln.

Klaus Molidor
Klaus Molidor
Ein Sommer auf der Berghütte: Reset am Reichenstein


Midlife Crisis ist so ein blödes Wort“, sagt Markus Lipp und stellt die Fritattensuppe auf den von Wind und Wetter gezeichneten Holztisch. „Aber wenn man selbstreflektiert ist, ist 46 schon ein Alter, in dem man sich noch einmal selbst hinterfragt.“ Das hat der gebürtige Weststeirer getan. Und den Job in der IT-Branche in Wien gekündigt. Die Reißleine ziehen, bevor Körper und Seele Schaden nehmen, das konnte er schon immer. Danach sollte diesmal aber nicht einfach ein neuer Job kommen, sondern Ruhe, Durchatmen, raus aus der hochfrequenten Alltagstaktung, Freizeitstress inklusive. Da ergibt es sich, dass parallel der Mietvertrag ausläuft, den er nicht verlängert. „Da dachte ich mir: cool, das ist jetzt wie ein Computer-Reset. Man drückt einen Knopf und fährt alle Systeme herunter.“

Auf einer Hütte zu arbeiten, war nicht der Plan eigentlich. „Aber ich wollte wirklich weg und auf einer Hütte ist man wirklich weg von allem.“ Ein Freund bringt ihn auf die Eisenerzer Reichensteinhütte. Dort ist zwar keine Stelle ausgeschrieben, Markus Lipp bewirbt sich trotzdem. Er trifft sich mit dem Pächter und nach einer halben Stunde ist alles klar. Weil die Chemie stimmt – und die wichtiger als die beruflichen Fähigkeiten ist, wenn man ein halbes Jahr jeden Tag von früh bis spät zusammen ist.

Also kündigt er auch Versicherungen, schneidet wirklich alles durch. Eine Kurzschlusshandlung? Mitnichten. „So etwas kommt einem ja nicht von heute auf morgen in den Sinn, das ist ein Prozess.“ Einer, der vor Jahren damit begonnen hat, dass er Dinge verschenkt und verkauft hat, die er nicht mehr braucht. Kleidung, Ergometer, Möbel. „Ja, ich war konsumorientiert“, gesteht er. „Aber ich wollte lieber etwas Neues bekommen, als es zu besitzen, insofern kann ich mich auch gut trennen von Dingen.“ Heute passt sein ganzes Hab und Gut „sicher in ein Auto“. Und selbst davon braucht er nicht alles. 

Anfang Mai beginnt dann der Weg in die Abgeschiedenheit. Durch tiefen Schnee stapft er mit dem Hüttenwirt nach oben. Von der Passhöhe am Präbichl übers Grübl auf den Rösselhals und über einen schmalen Pfad in Serpentinen höher und höher bis auf 2128 Meter zur Reichensteinhütte. Der Ausblick ist von hier, nur wenige Höhenmeter unter dem Gipfel, atemberaubend. Erzberg, Gesäuse, Admonter Reichenstein, Grimming, Dachstein und, und, und. „Wenn die Fernsicht gut ist, sieht man bis ins Berchtesgadener Land“, sagt Markus Lipp.

Bevor die ersten Gäste kommen, kommt einmal der Hubschrauber – so wird die Hütte nämlich einmal pro Saison beliefert. Da geht es richtig rund. 20 Leute beladen im Tal das Transportnetz, 20 entladen es am Berg. „42 Mal ist er heuer geflogen. Alle fünf Minuten“, erzählt Markus Lipp. Er selbst ist im Keller am Ende der Menschenkette gestanden. „Weil ich der Schlichter bin“, sagt er und lacht. Aber nicht nur Schlichter, auch Kellner, Heizer, Reinigungskraft, Haustechniker, Schneeschaufler, einfach Mädchen für alles. „Ich mag die körperliche Arbeit. Die Müdigkeit danach ist viel ehrlicher als nach einem Tag vorm Computer.“ Schnee geschaufelt hat er so viel „wie insgesamt in meinem ganzen Leben noch nicht“, erzählt er. Bier zapfen kann er dafür schon sehr gut. „Nur beim Verhackertbrot vergisst er immer noch zu fragen, ob mit oder ohne Zwiebel“, ruft ein Kollege herüber.

Aber ich wollte wirklich weg und auf einer Hütte ist man wirklich weg von allem. 

Aufgewachsen auf einem Bauernhof ist Markus auch kein Sozialromantiker. Er wusste, dass das Leben auf der Hütte nicht so „chillig“ ist, wie sich das viele vorstellen, die ihn um die sechs Monate beneiden. Aber dieses Leben und Arbeiten im natürlichen Rhythmus, das taugt ihm. „Wenn viel los ist, kommst’ fünf Stunden nicht dazu, dich hinzusetzen, dafür gibt es Tage, da kann ich in der Wiese liegen und die Aussicht genießen. Das Panorama wird einfach nie langweilig.“
Stichwort Langeweile. Auch die gibt es nicht. Dafür eine große Freiheit. Früher, in Wien, da hatte er oft ein schlechtes Gewissen, wenn er am Wochenende das kulturelle Angebot nicht genützt hat und am Sofa gelegen ist. „Durch die Unmöglichkeit hier etwas unternehmen zu können, bekommt man eine extreme Freiheit, weil man nicht darüber nachdenken muss, was man machen könnte. Das kristallisiert sich für mich als eines der prägenden Dinge heraus.“

Leben in und mit der Natur, das Vermischen von Arbeit und Freizeit, das genießt er. Viele aus seinem Umfeld würden so etwas auch gerne machen. „Dann kommt das große Aber“, sagt er. „Natürlich tu ich mir als Single schon leichter, weil mein Handeln nur für mich Konsequenzen hat.“ In der letzten Zeit vor dem „Ausstieg“ hat er bei einem Klimawandelvortrag sein neues Lebensmotto gefunden. „Zu unterscheiden, was ist Lebensstandard und was ist Lebensqualität. Klar ist ein Pool schön, und ein neues Auto – aber brauch ich das?“
Wenn wenig los ist, auf der Bank beim Kachelofen liegen, bei einem Gewitter, wenn in der ganzen Hütte der Strom abgedreht wird, aus dem Fenster auf den Gipfel zu schauen, jeden Tag zu sehen, wie die Sonne hinter dem Bergpanorama verschwindet – das ist sein Luxus. „Und ich habe ein ehrliches Interesse an den Menschen und ihren Geschichten.“ Manch einer schüttet oberhalb der Baumgrenze sein Herz aus, erzählt seine Lebensgeschichte, bevor es ins Nachtlager geht. 

Ein Sommer auf einer Berghütte: Reset am Reichenstein

Seine eigene Lebensgeschichte ist übrigens eine gute. „Ich habe das nicht gemacht, weil ich mit meinem Leben unzufrieden war“, stellt Markus Lipp klar. Vielleicht unterbewusst hat er aber alles geregelt. Auch die Bankkonten vereinfacht und die Aktenordner seinem Bruder übergeben. „Eine Kollegin von früher hat sich Sorgen gemacht, ob ich nicht Selbstmord begehe, weil ich mein Leben noch so regle“, erinnert er sich.

Wenn die Hüttenzeit Ende Oktober zu Ende ist, geht es zurück in die Zivilisation. „Dafür habe ich keinen Plan“, sagt Markus Lipp spontan. Nach ein wenig Überlegen dann aber doch: „Der Plan ist, dass ich danach etwas mache, das mir möglichst viel Freiheit gibt, Dinge zu tun, die ich gerne mache. Statisterie in Film und Theater zum Beispiel. Oder was halt so kommt.“ Geld ist ihm nicht wichtig, leben muss er davon können. Reduktion auf das Wesentliche, eben auf die Lebensqualität. Aktuell hält er bei monatlichen Fixkosten von 17 Euro. „Das ist genau mein Handyvertrag.“ 

 Ich mag die körperliche Arbeit. Die Müdigkeit danach ist viel ehrlicher als nach einem Tag vorm Computer.

Bevor der Herbst und die Zukunft kommen, fährt er erst einmal die Systeme nach dem Reset wieder hoch. Langsam und anders als zuvor. „Ich kann das Glück in kleinen Dingen finden. Das nehme ich hier bewusster wahr als zuvor. Ganz banal finde ich es befriedigend, jemandem ein Bier zu bringen, weil man ein sofortiges Feedback zu seiner Arbeit bekommt.“
Ob ihn das Leben auf der Hütte verändert hat? „Vielleicht insofern, als ich noch mehr versuche, mir über manche Dinge nicht zu schnell eine Meinung zu bilden, weil man sich im Grunde sehr schwer damit tut, mit dem geringen Wissensstand, den man oft hat.“

Der Mittagsansturm ist vorbei, die Suppenteller im Geschirrspüler, das Dieselaggregat brummt und Markus setzt sich mit einem Teller Spaghetti mit Pesto und Parmesan in die Sonne. Wolken ziehen auf. Nur am Himmel, nicht an seinem inneren Horizont. „Wenn man grundsätzlich eine positive Einstellung Menschen und Dingen gegenüber hat, dann bekommt man das zurück. Das sind Dinge, die mir hier so richtig bewusst geworden sind“, sagt Markus Lipp zum Abschied. Da ist es auch egal, dass er das Verhackertbrot immer noch ohne Zwiebeln bringt.

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