Erst Blut, Schweiß und Tränen, danach Glücksgefühle im Übermaß – Volkslangläufe können beides vereinen. Am Beispiel des legendären Engadiner Skimarathons über 42 km: SPORTaktiv-Redakteur Klaus Molidor weiß, was euch vom ersten Schneetraining bis ins Ziel des größten Langlauf-Events Mitteleuropas an Aufwand, Mühsal, Freud und Leid so alles erwartet.

Von Klaus Molidor


Drei Monate sind es im Normalfall. Drei Monate von den ersten Schmerzen bis zum aufmunternden „Machets guat", des Streckensprechers. Drei Monate vom ersten Ausflug auf den Skating-Latten bis zu den ersten Doppelstockschüben von Maloja aus hinaus auf den zugefrorenen Silsersee in Richtung St. Moritz. Damit beginnt am zweiten Sonntag im März der ­Engadiner Skimarathon, nach dem Wasa­lauf der wohl traditionsreichste Volkslanglauf der Welt.

Davor kommt Anfang Dezember aber der Schmerz, so verlässlich wie jeden Tag die Sonne aufgeht. Über den Sommer hat sich Flugrost an Fußgewölbe und Sprunggelenk angesetzt, der auf den ersten ein, zwei Stunden in der Loipe zum ständigen Begleiter wird. Ebenso wie der galoppierende Puls und die ausgelaugte Oberarm-Schultergürtel-Partie.

Schon beim zweiten Training ist aber jeder Schritt, jeder Stockeinsatz ein Weg zurück zum runden Laufen. Weil es für „Flachländer" aber zunehmend zum Problem wird, neben Arbeit und Familie auch noch genügend Schneekilometer zu sammeln, müssen oft die Laufschuhe herhalten, um die nötige Kondition zu schinden. ­Nebel, Dunkelheit, Nieselregen, Feuchte, die unter die Funktionskleidung kriecht – das sind deine Begleiter in den Wintermonaten.

VOLLER SCHUB
In der Loipe empfiehlt sich dann vor allem für den weniger geübten Lang­läufer ein Techniktraining. Um wieder sauberer auf dem Ski zu stehen, um sich von einem Trainer die eingeschliffenen Bewegungsmuster wieder ausmerzen zu lassen. Das spart am Ende Kraft und die kann auf 42 km und auf 1.800 m Seehöhe jeder brauchen – egal, ob Anfänger, Genussläufer oder ambitionierter Vielgleiter auf dem Weg zur persönlichen Bestzeit.

Wer sich wirklich gut vorbeiten will, sollte jetzt auch damit beginnen, die Innen- und Außenseiten der Oberschenkel mit Krafttraining zu stärken. Für den richtigen Schub mit den Stöcken sorgt im Oberarm der Trizeps, also der hintere dreiköpfige Muskel. Leidensfähigkeit ist beim Training gefragt, da sich die Trizeps-Ermüdung nicht langsam ankündigt, sondern so richtig einschießt. Autsch. Hilft aber, wie die Erfahrung zeigt.


Video: Highlights vom Engadin Skimarathon 2016

FRÜH HERAUS
Schnelligkeit hilft übrigens nicht nur in der Loipe, sondern auch bei der Anmeldung. Bis zum Jahreswechsel kostet ein Startplatz umgerechnet 95 Euro, dann springt der Preis monatlich nach oben – bis zu 152 Euro für jene, die sich erst ab Anfang März dazu entschließen, den „Engadiner" zu laufen.

Das mag teuer anmuten, ist es aber nur auf den ersten Blick. So ist die An- und Abreise mit dem Zug von und bis Chur in der Schweiz gratis. Am Rennsonntag gilt die Startnummer für die Fahrt mit Bahn und Bus zum Start nach Maloja und für die Abreise aus dem Ziel zum Quartier als Fahrschein. Im Eisenbahnland Schweiz funktionieren diese Transfers mit der Präzision eines Uhrwerks, ebenso wie Kleidertransport und Verpflegung an der Strecke. „Nur laufen musst du selber", sagt Ruedi, der knorrige Wirt unseres Berggasthofs, immer.

Apropos Wirt. Auch bei der Suche nach einer Unterkunft sollte man einen Sprint einlegen, für das Marathon-Wochenende sind die Quartiere in allen Preiskategorien rasch ausgebucht.

Einziger Wermutstropfen bei der Bahnfahrt: Am Renntag muss man extrem früh aus den Federn! Je nach Entfernung zum Start klappern die Läuferinnen und Läufer schon kurz nach 5 Uhr früh mit Skiern und Zähnen gleichermaßen auf den Bahnsteigen. Ab St. Moritz fahren dann auf der gesperrten Straße zum Start Sonderbusse. Wo es dann ein, zwei Stunden vor dem Start um 8.30 Uhr auch Anfang März noch knusprige Minusgrade im zweistelligen Bereich haben kann. Seit zwei Jahren gibt es aber auch hier Abhilfe durch beheizte Zelte.


Video: Engadin Skimarathon 2017 Trailer


TROCKENOBST UND TELEMARK
Spätestens kurz vor halb 9 Uhr ist dann aber alles vergessen. Die Kälte, das harte Training, die Schmerzen, die Nervosität. Bevor die Elite an den Start geht, blinzelt zum ersten Mal die Sonne über den Malojapass herüber und aus den Boxen ertönt „Conquest of Paradise". Wer da keine Gänsehaut bekommt, ist für Gefühle und Empfindungen generell verloren. Das Hochgefühl hält dann auch lange an. 14.000 Gleichgesinnte, links und rechts dick verschneite Dreitausender und eine brettlebene Loipe – Langläufer, was willst du mehr! Das ist der Lohn für endlose Nebelläufe, für alle Schinderei im Fitnessstudio und im Wachskeller. Das Gemeinschaftserlebnis wird auch noch durch die vielen Zuschauer am Streckenrand verstärkt, die vor allem rein nach St. Moritz und hinauf im 5 km langen Anstieg in den Stazer Wald stehen und mentale wie körperliche Hilfe sind: Beim Anfeuern, ganz klischeehaft per Kuhglocke, strecken dir viele Leute Orangenspalten, Bananen, Traubenzucker oder – mein Favorit – getrocknete Marillen entgegen.

Das hilft bis in den „Nahen Osten". Denn die letzten 7 Kilometer des Marathons haben die Schweizer liebevoll „Golan Höhen" getauft. Drei harte Anstiege stellen sich da noch vor den finalen Glücksgefühlen in den Weg, dazu gefühlte zehn kleinere ­„Hupferln", bis es endlich nur noch bergab geht. Eine scharfe Linkskurve, eine scharfe Rechtskurve, dann hinein ins Zielstadion. Die Sieger sind längst geduscht und abgereist, bis ich im „Gruppetto", dem Block der Abgehängten, ins Ziel schlurfe. Trotzdem, ein Telemark auf der Ziellinie muss einfach sein. „Gut gemacht, Klaus", sagt der kleine Reto, einer der Medaillen-Umhänger, und legt mir das blaue Band mit der Medaille um den Hals. Spätestens jetzt tut dir nichts mehr weh, alle „Nie wieder"-Schwüre von unterwegs sind vergessen. Vielmehr taucht im Hinterkopf auf: Äh, wann genau startet die Anmeldung ...?

Der 49. Engadin Skimarathon findet am 12. März 2017 statt. Weitere Infos: www.engadin-skimarathon.ch


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