Urlaubszeit ist Familien­zeit. Wer seinen Familien­urlaub noch vor sich hat, sollte diesen am besten gemeinsam bewegt nutzen: Bewegungserfahrungen prägen fürs gesamte Leben. Und Gerade bei vielen Kindern und ­Jugendlichen ist Bewegung seit letztem Jahr zu kurz ­gekommen.

Christof Domenig
Christof Domenig


Es waren aufrüttelnde Worte, mit denen sich eine hochkarätige Expertenrunde im März, also noch im Lockdown, für bessere Bewegungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche aussprach. Beim „Zukunftstalk“, den der Österreichische Fußballbund und die Sportunion gemeinsam veranstaltet hatten, verwies etwa der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther darauf, dass natürliche Bedürfnisse (wie das Bewegungsbedürfnis) bei Kindern schwinden, wenn sie länger unterdrückt werden. „Ein Jahr im Leben eines Siebenjährigen ist wie zehn Jahre für einen 70-Jährigen“, gab Hüther in dem Zusammenhang zu bedenken. 

Christoph Pieh, Universitätsprofessor für Psychosomatische Medizin an der Donau-Universität Krems, berichtete von einer Studie mit 14-Jährigen: Die Zeit mit Homeschooling, verminderten sozialen Kontakten und Ausfall von sportlicher Tätigkeit habe zu einem besorgniserregenden Anstieg depressiver Symptomatik, gedrückter Stimmung, Angstsymptomen und Schlafstörungen geführt. Auch Reinhold Kerbl, Generalsekretär der österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, nannte neben körperlichen Auswirkungen (wie zwei bis vier Kilo Gewichtszunahme pro Kind) vor allem die gravierenden psychischen Folgen der fehlenden Bewegung. Umkehrschluss: „Bewegung und Sport haben positive Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, sie lassen die Lebenszufriedenheit stark ansteigen ebenso wie die Selbstwirksamkeit – dass sich Kinder also selbst vernünftig führen können.“

Kerbl führte auch aus: „Kinder gehen nicht alleine joggen – sie brauchen eine Gruppe und die soziale Umgebung, in der sie Spaß an Bewegung haben“. Ein einleuchtender Grund, warum die Pandemie- und Lockdownzeit für Kinder noch belastender war als für uns Erwachsene. Die Großen konnten ihrem natürlichen Bewegungsbedürfnis im Individualsport nachgehen, wenn etwa Vereinssport nicht möglich war. Für Kinder- und Jugendliche war eine derartige Kompensation deutlich schwieriger.

Betreut und angeleitet
Das sieht auch Martin Schnitzer, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Innsbruck, so: „Kinder betreiben überwiegend in organisierten Einheiten Sport, wo sie betreut und auch angeleitet sind. Diese sind komplett weggebrochen.“ Kinder wollen sich in erster Linie spielerisch austoben, sagt Schnitzer auch. „Zum Beispiel eine Art Biathlon gestalten – eine Runde laufen und dann einen Ball werfen“, wäre eine Möglichkeit, um als Elternteil seinen Kinder in einer Lockdownphase ein passendes sportliches Angebot zu machen. „Aber man kann von Eltern nicht erwarten, dass sie auch noch Sportpädagogen sind.“

Man muss Kinder auch einmal acht, neun, zehn Sport­arten ausprobieren lassen, ehe das Passende gefunden ist.

Univ.-Prof. Martin Schnitzer, PhD

Hoffen wir, dass die Freiheit, die es seit einigen Wochen endlich wieder gibt, auch längerfristig möglich ist. Bewegungsarmut ist freilich nicht erst seit Corona ein Thema. Sondern eines, das sich quer durch die gesamte Bevölkerung zieht – und auch das Kinder- und Jugendalter schon betrifft. 60 Minuten tägliche Bewegung in unterschiedlichen Intensitätsbereichen empfiehlt die WHO Kindern und Jugendlichen. Das erreicht nur eine Minderheit von einem Viertel bis einem Fünftel, weiß Schnitzer. Das zeigt zum Beispiel die regelmäßig durchgeführte „KIGGS“-Studie des renommierten deutschen Robert-Koch-­Instituts: Nur 29 Prozent der Burschen und 22 Prozent der Mädchen zwischen 3 und 17 Jahren erreichen aktuell das empfohlene Pensum.

Was ist aber mit dem (gefühlten) Sportboom? Ein bewegtes Leben, ein gesunder Lebensstil liegen doch im Trend – beweisen etwa Zahlen des Sporthandels. Aber auch Blicke in die sozialen Medien, wo sich viele (junge) Menschen beim Sport und in der Natur präsentieren. Schlägt das nicht automatisch auch auf die „junge Zielgruppe“ durch? Schnitzer sieht hier leider weniger einen Boom in der Breite als vielmehr eine ­Polarisierung: „Eine sehr sportliche Gruppe von Menschen macht zunehmend extremere Dinge. Dann gibt es eine große Gruppe, die kaum Bewegung macht. Die gesunde Mitte fehlt“, sagt Schnitzer. Der auch dafür plädiert, Bewegung „breiter“ zu sehen: Nicht nur an Sport zu denken, sondern etwa auch Alltagsbewegung wie den Schulweg mit einzubeziehen. Auch hier sollten Erwachsene Vorbild sein, den Trend zum „E-Roller“ für die letzte Meile sieht der Sportwissenschafter überaus skeptisch.

Bewegungsfreude fördern
So weit die Theorie. Doch was kann man praktisch tun, um als Elternteil Bewegungsfreude seiner Kinder zu wecken? Sportwissenschafter Schnitzer, selbst Vater von vier Kindern, hat ganz grundsätzliche Ratschläge für Eltern von Kindern unterschiedlichen Alters:
„Eine Grundregel ist, Bewegungsfreude vorzuleben. Oder wenn man das aus irgendeinem Grund nicht kann, Bewegung zu befürworten und in positivem Licht darzustellen. Das ist etwas Gutes, Lässiges“, sagt Schnitzer.

Zur Art und Weise der Bewegung: „Gemeinsamer Sport mit Kindern darf zwischendurch auch einmal anstrengend sein. Aber am Ende soll das Freudvolle, Spielerische überwiegen. Etwa beim Radfahren: Das Runterfahren als Belohnung fürs Rauffahren.“
Auch ein grundsätzlicher Tipp: „Einfühlen und verstehen, welche Bedürfnisse Kinder und Jugendliche haben“, sagt Schnitzer. Nicht von den eigenen Vorlieben ausgehen, sondern die Kinder selbst entdecken lassen, was zu ihnen passt. „Man muss Kinder auch einmal acht, neun, zehn Sportarten ausprobieren lassen, ehe das Passende gefunden ist.“

Andererseits sollte man auch nicht den ersten Impuls des Nachwuchs, eine Sportart nach drei Versuchen gleich wieder aufzugeben, nachgeben: „Vielmehr motivieren, auch einmal durchzuhalten, wenn es nicht so leicht ist. Das ist ja auch etwas, was im Sport für das Leben mitgegeben wird.“ Zu akzeptieren ist jedoch auch, wenn sich die Bedürfnisse ändern. Gerade mit dem Eintritt ins Jugendalter ist das häufig der Fall. Sport mit den Eltern, aber auch Sport im Sinne von Wettkampf und Leistungssport sei da häufig nicht mehr gewünscht. Manche Sportvereine hätten das schon verstanden, manche müssten sich auch erst danach ausrichten. Es muss aber nicht in einem Verein sein, man denke etwa an die urbanen Skaterszenen.
 
Stichwort Jugendalter: Hier passiert oft ein Ausstieg aus dem Sport, wenn eben keine passende Alternative gefunden wird. Der Wiedereinstieg danach im Erwachsenenalter ist später oft schwer. Gelinge es aber, junge Menschen das gesamte Jugendalter über bei einem Sport zu halten, dann sei umgekehrt die Chance groß, dass man sich ein Leben lang gern bewegt, sagt Schnitzer. Ein Auftrag nicht nur für Eltern, sondern für die gesamte Gesellschaft. 

Urlaubszeit ist Bewegungszeit
Die Möglichkeit zum Ausprobieren vieler unterschiedlicher Bewegungsformen haben wir schon angesprochen. Und dafür ist die Urlaubszeit ideal. „Zeitmangel wird häufig als Verhinderungsgrund von Sport genannt“, weiß Martin Schnitzer. „Dieses Argument fällt im Urlaub schon einmal weg,“ Der Sportwissenschafter liefert die fachlichen Inputs für das sportliche Angebot von Hotels der „Pletzer Resorts“ und hat für das „Familotel Bayrischzell“ in Oberbayern an einem Sport- und Gesundheitskonzept speziell für Familien mitgewirkt. „Der Urlaubskontext ist ideal, um neue Sportarten auszuprobieren. Wichtig ist auch die Möglichkeit, sich kompetent betreuen zu ­lassen“, erklärt Schnitzer. Ganz generell gilt, dass die Berge und das Wasser ideale „Familien-Bewegungs­zonen“ sind. Gerade jetzt, nach einem Jahr mit vielen Einschränkungen, gilt es, die wiedergewonnenen ­Bewegungsmöglichkeiten zu nutzen!