Julia Mayer, Österreichs Top-Marathonläuferin, und ihr Trainer sowie Physiotherapeut Vincent Vermeulen über Motivation, Gesundheit und Spaß beim Laufen – und warum es ungewöhnliche Wege braucht, um weiterzukommen.
Julia, wann hast du das letzte Mal beim Laufen eine Gänsehaut gehabt?
Julia Mayer: Ehrlicherweise ist das schon eine Weile her – beim Zieleinlauf bei den Olympischen Spielen. Wenn du auf dem Peak deiner Leistungsfähigkeit bist bei dem Event, wo jeder hinwill, und du auch schaffst, alles umzusetzen, was du dir vorgenommen hast: Dann ist das mit nichts anderem vergleichbar.
Du trainierst auch am Rad, hört man – was macht gerade das Laufen für dich besonders?
JM: Beim Laufen bin ich am stärksten. Ja, ich trainiere hie und da am Rad und bin darin wahrscheinlich vergleichsweise gut, aber nicht außergewöhnlich. Ich weiß, wo meine Stärken und Schwächen liegen. Man fühlt sich dort zugehörig, was man am besten kann.
Nach deinem erreichten Ziel, dem Olympiamarathon in Paris, bist du in ein Loch gefallen. Was hat dir geholfen, da wieder herauszukommen?
JM: Es ist schwierig zu vermitteln, wie es einem da genau geht. Es war kein Motivationsproblem – meine Motivation war immer da. Nur: Ich habe nicht gewusst, ob ich weitere vier Jahre Schmerz und Verzicht auf mich nehmen will, die es braucht. Und ich habe gezweifelt, ob ich noch besser werden kann. Ich war lange so fokussiert auf das eine Ziel, dass ich letztlich gar nicht mehr wusste, warum ich laufe. Nach vielen Gesprächen, vor allem auch mit Vincent, habe ich wieder erkannt: Ich laufe aus Freude an der Bewegung. Heute bin ich mental und körperlich stärker denn je.
Vincent, was empfiehlst du Freizeitläufern in Sachen Zielsetzung?
Vincent Vermeulen: Das Ziel im Freizeitlaufen sollte einzig und allein die Gesundheit sein. Für den Freizeitläufer geht es um nichts – außer dass du läufst. Ich kann nur raten: Schau, dass du dich verletzungsfrei bewegen kannst, dass du dich gut fühlst – und mach dir sonst nicht noch zusätzlichen Stress.
JM: Was ich vor allem von Vincent gelernt habe: Auch wenn es mein Beruf ist, Leistung zu bringen, steht bei uns Profiathleten ebenso die Gesundheit an erster Stelle. Wenn mir die große Zehe wehtut, machen wir eine Einheit nicht, bis wir die Ursache kennen. Es gibt kaum Trainer, die sich so sehr am Körper des Athleten orientieren.
VV: Der Unterschied ist: Julia, du möchtest deine Leistung erbringen. Für einen Freizeitläufer muss es egal sein, ob du auf 10 Kilometer eine Minute schneller oder langsamer läufst. Was dir nicht egal sein kann: wie es deinem Herz geht. Deswegen – ja, setzt euch Ziele, aber im Sinne der Gesundheit.
Trailrunning boomt – und die langen Distanzen faszinieren. Was einerseits verständlich ist. Sollte man aber nicht im Sinn der Gesundheit raten: Es muss nicht immer „Ultra“ sein?
VV: Ich betreue zwei sehr gute junge Trailrunner und habe sie zu den kürzeren Distanzen gebracht. Ich sehe so viele in der Szene, die verletzt sind – das steht nicht dafür.
Ihr habt Trailrunning in Julias Marathontraining eingebaut. Was macht diese Trainingsform interessant?
JM: Es macht zunächst in den meisten Fällen mehr Spaß. Jetzt im Sommer: Mehr Schatten, es ist kühler, du läufst bergauf, bergab, alles vergeht schneller. Du wirst zum besseren Läufer, weil du andere Muskelgruppen beanspruchst, technisch viel sauberer läufst. In meinem speziellen Fall haben wir es für den relativ hügeligen Marathon von Paris gemacht ...
VV: Als sie mir das Streckenprofil geschickt hat, haben wir eine leichte Krise gehabt. Dann haben wir angefangen, im Gelände zu laufen. Julia ist bergab genauso schnell wie im Flachen gelaufen. Sie musste aber schneller laufen. Sie ist in der Prater Hauptallee aufgewachsen – da lernst du eines nicht: Laufen. Sie hat es angenommen, nicht gejammert, den Schmerz in den Oberschenkeln ausgehalten – und eine Leistung in Paris gebracht, die schwer zu übertreffen ist. Im Marathon, der allergrößten Sportart der Welt.
JM: Früher wäre ich nie freiwillig im Gelände gelaufen. Jetzt macht es mir sauviel Spaß. Ich mache immer noch Intervalle im Gelände, weil es einfach sinnvoll ist, es mich lauftechnisch weiterbringt.
VV: Du lernst nichts, wenn du immer das Gleiche machst. Du musst in deinem Gehirn Verbindungen legen – und lernst nur dazu, wenn du aus der Mitte gebracht wirst. Meine Aufgabe als Trainer ist es, meine Athleten aus der Mitte zu bringen – im richtigen Ausmaß, nicht zu wenig, nicht zu viel.
Schlaf, Ernährung, Dehnen: In der Regeneration setzen wir auf die drei, von denen wir wissen, dass sie funktionieren.
Langjährige Hobbyläufer kämpfen mit zunehmendem Alter oft mit Verletzungen. Wie könnte man dem vorbeugen – die Monotonie öfter durchbrechen?
VV: Grundsätzlich – wenn du jeden Tag läufst, hast du schon einmal 90 Prozent richtig gemacht. Aber natürlich geht mit dem Alter die Qualität der Knorpel zurück, die Elastizität der Muskulatur nimmt ab. Das alles wird sich, wenn du nur in der Ebene läufst, nicht verbessern. Daher ist es wichtig, im Gelände zu laufen. Der zweite Punkt: Man merkt, dass die Leistungsfähigkeit im intensiveren Bereich zurückgeht. Aber das ist nur zu einem kleinen Teil durchs Älterwerden bedingt – der Hauptgrund ist schlicht, dass man sich nicht oft genug in dem Bereich bewegt. Also: Viel Gelände, viel im intensiven Bereich trainieren. Das ist auch nicht gefährlich, wenn man die richtigen Gesundheitsvorsorge-Untersuchungen macht. Und die sind mit 30 Jahren genauso wichtig wie mit 50.
Julia, du bist bekannt für deine Wochenumfänge teils deutlich über 200 Kilometer. Was machst du zur Regeneration, um diese Umfänge gut zu verkraften?
JM: Punkt eins ist schlafen – früh genug und lang genug. Dann: essen – worauf viele vergessen, dass man auch während intensiver Einheiten genügend Kohlenhydrate zu sich nimmt. Der dritte Punkt, ganz wichtig: das Dehnen.
VV: Schlaf – 10 von 10 Punkten; Ernährung – 7 von 10 Punkten, Dehnen 5 von 10. Wir setzen auf diese drei, von denen wir wissen, dass sie wirklich funktionieren.
JM: Bei Großveranstaltungen wie Olympischen Spielen kriegst du alles angeboten: Eisbad, Physio und Massagen, Massagewesten und Kühlwesten. Es kam immer die Frage: Julia, was brauchst du? Und ich: Ja, nix!
Kann sich der Hobbysportler beim Schlaf etwas von Profis abschauen?
VV: Ein Unterschied – bei dir und mir geht der Wecker in der Früh, bei Julia und meinen Athleten sollte er nicht abgehen. Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass die Leistung schon bei einer oder zwei Stunden Schlaf zu wenig deutlich abnimmt. Ein allgemeines Maß ist schwer bestimmbar, aber wir wissen: Mehr Schlaf ist besser.
JM: Der große Unterschied ist auch das, was man zwischen 12 und 15 Uhr macht. Als ich noch gearbeitet und schon relativ professionell trainiert habe, habe ich gemerkt: Es kann nie etwas leistungstechnisch weitergehen, wenn ich keine Regenerationseinheit am Nachmittag habe. Bis 15 Uhr arbeiten und dann direkt noch einmal trainieren funktioniert nicht.
VV: Es bringt auch nichts, wenn du richtig viel arbeitest, dass du richtig viel trainierst. Oder besser: Es bringt vom gesundheitlichen Standpunkt aus etwas, aber nicht für die Leistung. Ich mach oft zwei Einheiten am Tag, morgens laufen, abends Rad fahren – aber merke: Ich werde davon nicht besser. Ich mache es trotzdem, weil es mir Spaß macht.
Dehnen vor Krafttraining?
JM: Aus meiner Sicht schon.
VV: Aus meiner auch. Ich halte Krafttraining für sehr überbewertet – nicht zu verwechseln mit unwichtig. Aber wenn du zum Beispiel einen Hügel ordentlich runterläufst, hast du sehr gute Auswirkung auf deine Oberschenkelmuskel. Viele sagen vielleicht, es gibt Studien, dass Dehnen nichts bringt. Ich kann nur von Hermann Maier über Julia Mayer bis zu meinem Sohn Mika ein paar aus dem Spitzensport nennen, die sehr fanatisch dehnen und entsprechend beweglich sind, nie verletzt und über die Jahre voll funktionsfähig waren. Es hat auch eine wichtige entspannende Wirkung. Ob Dehnen auch auf lokaler Ebene wirkt – das kann jeder für sich selbst entscheiden.
Was wäre der eine abschließende Gedanke, den ihr Hobbyläufern mitgebt?
JM: Es klingt so banal aber es ist wirklich so, dass der Spaß im Vordergrund stehen muss. Sonst macht man es einfach nicht – und es ist so wichtig, dass man es macht. Spaß kann viel sein – wenn ich allein laufe mit Musik, wenn ich mit meiner besten Freundin laufe oder wenn ich in den Wald laufe oder wo hinfahre und eine Runde um den See laufe. Spaß ist der entscheidende Faktor – und er schaut für jeden ein bisschen anders aus.
VV: Es ist richtig cool, fit und leistungsfähig zu sein. Ich bin sehr gerne hier auf dieser Welt – und das will ich sehr lange bleiben und dafür auch funktionsfähig bleiben. Ich weiß, dass die Natur dafür sorgen wird, dass ich ein bisschen weniger leistungsfähig werde. Aber wenn du mit Training dafür sorgen kannst, dass du fünf oder sechs Jahre länger hast – dann mach es einfach.