Nach drei Jahrzehnten ­Piste hat unser Chefredakteur zum ersten Mal die Grenze ins Gelände überschritten und eine Skitour absolviert. Seither versteht er die Sucht nach stundenlangem Aufsteigen für die eine Abfahrt.

Klaus Molidor
Klaus Molidor

Voller Impfschutz gegen den Trend: Drei Jahrzehnte lang hatte das Skitourenvirus keine Chance, sich in meinem Körper einzunisten und auszubreiten. Allen Verlockungen und Erzählungen zum Trotz, die vom weißen Rausch berichten, vom Freiheitsgefühl und vom unübertroffenen Naturerlebnis. Die Immunität gegen diesen Sport war unerschütterlich. Skifahren, das war Piste für mich und nicht Tiefschnee. Wohl auch, weil mir als Flachländer sowohl Schnee als auch Erfahrung nicht im ausreichenden Maße zur Verfügung standen. Irgendwann war die Verlockung aber doch zu groß. Perspektivenwechsel, raus aus der Komfortzone, was Neues kennenlernen. Also Skitour. Und wenn, dann gleich richtig. Nicht irgendwo in Pistennähe, sondern im Jamtal in Tirol. Mit einer Gruppe von Novizen und Fortgeschrittenen, vor allem aber mit zwei Experten als Guides: Bergführer und Bergretter Christian Eder und Bergsteigerlegende Peter Habeler. Sicherheit hat Priorität – eingeladen hat schließlich das Kuratorium für Verkehrssicherheit. Schon beim Ausfassen der Leihausrüstung schleichen die Zweifel an dem Unterfangen zurück ins Unterbewusstsein. Die Schuhe sind zwar bequem und weich – aber hat man damit genug Halt? Die Pin-Bindungen ohne Rahmen, dafür mit zwei herzigen Zapferln, die in den Schuh einrasten, erwecken im Neuling auch kein Sicherheitsgefühl. Und die Bretter? Breit und leicht und ohne g’scheite Kanten. Na, servas.

HOCH ÜBER DEM ALLTAG
Das Fellaufziehen geht in der Früh wenigstens problemlos und dass man die Ski beim Schritt nicht heben, sondern nur vorwärtsschieben soll, ist ein super Tipp, der sich auch schnell umsetzen lässt. Durch den Schatten geht es von der Jamtalhütte auf 2.165 Metern Seehöhe recht flach los. Nach ein paar Hundert Metern verfliegt das Schmähführen in der Gruppe und es wird meditativ. Du schiebst die Ski vorwärts, wie beim Langlaufen in Zeitlupe, hörst das Knirschen des Schnees und den Atem. „Nicht zu schnell angehen“, hat Peter Habeler beim Aufbruch gesagt. Kraft sparen ist angesagt, immerhin liegen zwei, drei Stunden Aufstieg vor uns und eine einzige Abfahrt.

Schritt, Stockeinsatz, Atemzug, Schritt, Stockeinsatz, Atemzug. Immer wieder, immer weiter. Ein tranceartiger Zustand stellt sich in der Weite des Gletschers ein, der jetzt in der Sonne liegt. Bei der Rast auf der ersten Kuppe ist der Kopf schon frei. Du bist körperlich und mental hoch über dem Alltag. Blauer Himmel, schroffe Felsen, Fernsicht Ende nie – mehr braucht man nicht. Es ist die Rückkehr zu den elementaren Dingen, die Tourengehen faszinierend macht. Die hektisch oszillierende Alltagsschwingung mit Spitzenausschlägen im Sekundentakt verlangsamt sich zu weiten, wohligen Wellen. Bis Habeler ruft: „Weiter geht’s“. Jetzt wird das Gelände Richtung Rußkopf steiler und anspruchsvoller. Der 75-Jährige geht voraus, prüft mit dem Stock alle paar Meter den Schnee und mit Blicken die Gruppe. „Du darfst keinen überfordern, musst aber immer das Kommando haben, ohne schroff zu werden“, sagt Habeler. Seine Kondition reicht locker, um in den kurzen Pausen immer wieder Schnurren aus seinem Leben in den Bergen zu erzählen. Mit Heinz Fischer ist er schon unterwegs gewesen, mit Opernsängerin Angelika Kirchschlager, mit Schauspielern, Ministern und, und, und. Trotzdem ist sein Schmäh unaufdringlich und er immer Herr der Lage. Er braucht sich nicht zu inszenieren und lässt den Profi nicht heraushängen „Die ganzen Selbstdarsteller am Berg kannst, eh in der Pfeife rauchen“, sagt Habeler.

FREIHEIT PUR
Dann ist wieder Konzentration angesagt. Eine Hangquerung steht an. Einzeln drücken wir uns an den Berg – da schlägt das Neulingsherz vor Nervosität. Nach gut zweieinhalb Stunden ist der Rußkopf erreicht. Ein erhabenes Gefühl zu sehen, welche Höhe und Distanz man mit zwei Skiern an den Füßen zurückgelegt hat. Nach Gipfelbussis und Handschlägen dann die bange Frage der Tiefschnee-Unerfahrenen: Kommen wir da problemlos runter? „Zur Not im Zickzack“, beruhigt Habeler. Also: Felle runter, Haube runter, Helm auf. Die ersten Meter in der Schrägfahrt fühlen sich gut an. Der Schnee ist pulvrig und leicht. „So, jetzt in die Knie gehen, den ersten Schwung anstemmen und mir nach“, sagt Habeler. Die Stunde der Wahrheit schlägt. Linken Ski nach außen drücken, rechten beiziehen und schon geht’s dahin. Der zweite Schwung klappt schon parallel, die breiten Latten geben Auftrieb. Freiheit pur. Wären die Ohren nicht, die Mundwinkel würden sich am Hinterkopf treffen, so schießen die Endorphine ein. Der erste weiße Rausch meines Lebens. Zack, da ist der Impfschutz weg. Das Ende der Immunität. Jetzt verstehe ich, wie Tourengehen – bei Pulverschnee und Sonnenschein und unter fachkundiger Anleitung – zur Sucht werden kann. Die innere Einkehr beim Aufstieg, die Abfahrt als Belohnung, die Zufriedenheit nach einem Tag in der Natur ohne Trubel und Technik. Wiederholungsgefahr 100 Prozent. Oder wie Habeler sagen würde: superbärig.
 

Die Eckdaten der beschriebenen Tour:
  • Ausgangspunkt der Tour auf den Rußkopf (2.693 Meter) ist die Jamtalhütte über Galtür in Tirol.
  • Von dort starten Touren in allen Schwierigkeitsstufen, zum Beispiel auf die umliegenden Dreitausender wie Jamspitze, Dreiländerspitze oder den Augstenberg.
  • Auf der Hütte kann die komplette Tourenausrüstung (Ski, Schuhe, Stöcke, Felle, LVS-Gerät, Schaufel und Lawinensonde) ausgeliehen werden.

Web: www.jamtalhuette.at