Sie sind eine eigene Dimension des Wahnsinns: Steilwände von 4000er-Gipfeln in den Westalpen, bis zu 60 Grad Gefälle, dick vereist. darüber windgepresster Schnee, Felskanten, Windverfrachtungen, Gletscherspalten, erhebliche Lawinengefahr. 15 der schwierigsten Bergflanken hat sich der Schweizer Jérémie Heitz ausgesucht, um sie mit Skiern zu befahren. Ein Einblick in eine sportliche Welt, die selbst vielen Profi-Freeridern verschlossen bleibt.

Interview: Klaus Höfler


Was ist der grösste Unterschied deines Projekts zu Wettkämpfen auf der Freeride World Tour?
Der Unterschied ist riesig. Bei Wettkämpfen muss man einen Berg befahren, den man selbst nicht ausgewählt hat und den alle anderen auch runter müssen und dabei soll man möglichst Höchstleistungen erbringen. Dazu werden alle Sicherheitsfragen von den Organisatoren gemanagt.

Bei deinem Projekt warst du Mädchen für alles.
Ja, das ist mit wesenlich mehr Stress verbunden – aber für mich ist das der Preis, den man zahlen muss, um in den Genuss zu kommen, die berühmtesten und schönsten Gipfel der Alpen zu befahren.

Zwei Winter widmete er sich seinem „La Liste" übertitelten Projekt, orientierte sich auch an Pionieren aus den Anfängen des Extremskifahrens. Brauchte es früher aber Stunden, um einen Berg runterzukommen, ist es jetzt innerhalb von Minuten möglich, Fähigkeiten und Ausrüstung befinden sich auf einem ganz neuen Level. Nur die Gipfel sind dieselben geblieben.


Nach welchen Kriterien wurden die Berge ausgesucht?
Ich habe Berge ausgesucht, die eine Geschichte zu erzählen haben. Anhand dieser Geschichten und meiner eigenen Befahrungen wollte ich die Entwicklung des Steep Skiing beschreiben – und zwar so, dass es nicht nur für die Freeride-Szene, sondern für jeden Sportbegeisterten interessant ist.

Welcher der 15 Gipfel war der gefährlichste?
Zu den herausforderndsten zählte sicher das Matterhorn (4478 Meter), wo ich die Ostwand befahren wollte. Dort sieht es zwar meist recht weiß aus, im Untergrund ist es aber Fels. Es braucht jedoch Eis, auf dem der Schnee festkleben kann.

Daraus wurde es dann nichts. Zu wenig Schnee, zu viel Fels. Auch am Dom des Mischabel (4545 Meter) klappt es nicht. Und am Grand Combin (4184 Meter) erst beim zweiten Mal, nachdem sich beim Erstversuch mitten in der Steilwand ein Ski verabschiedet. Einer jener Momente, in dem einem auch als Zuschauer in der filmischen Dokumentation „La Liste" (www.laliste-film.com) der Atem stockt.


Warum geht man dieses Risiko ein?
Ich wollte meine Fähigkeiten im Skifahren bis an ihre Grenzen pushen und zwar in einer Disziplin, in der man viel Erfahrung und Wissen braucht. Deshalb bin ich diese steilen Hänge aggressiv und flüssig angegegangen – das hat vor mir noch niemand versucht.

Hast du die Routen auch im Sommer überprüft?
Ja, um zu wissen, wie der Untergrund aussieht. Und direkt nach den ersten Schneefällen machten wir Erkundungsflüge. Dazu kamen Skitouren zu den Gletschern und ich bin auch in die Wände geklettert, um bestmöglich über die Bedingungen und den Aufbau der Schneedecke informiert zu sein.

Heitz wird zum Ganzjahresstammgast rund um die spektakulärsten Gipfel der Westalpen. Lenzspitze, Obergabelhorn, Hohberghorn, Stecknadelhorn, Breithorn, Zinalrothorn, Mont Blanc du Tacul etc.: An einer Steilwand nach der anderen arbeitet sich Heitz ab. Teil des Projekts war es nämlich auch, die Gipfel selbstständig – also „by fair means" mit Eispickel, Steigeisen, Tourenski und Fellen – zu erreichen. „Ich allein mit zwei Eispickeln in einer riesigen Steilwand – das sind besondere Augenblicke", schwärmt Heitz. Tagelang klebt er so in senkrechten Schneewänden, bevor es in rasanten Bögen abwärts geht.


Wie schnell warst du bei diesen Abfahrten unterwegs?
Schwer zu sagen.

Zwischen den Schwüngen kam es dem freien Fall aber schon ziemlich nahe.
Ja. Meist ging es am Ende recht flach auf einen Gletscher hinaus. Da kann man oben schon Geschwindigkeit machen. Es waren wohl über 100 km/h.

Ein Sturz war in diesem Gelände definitiv keine Option.
Nein. Man darf einfach keine Fehler machen. Das ist eine mentale Geschichte.

Hattest du nie Angst?
Sicher hatte ich Angst. Das ist ja auch ganz natürlich und wichtig, um fokussiert zu sein.

Wann warst du am nervösesten?
Der stressigste Moment ist, wenn du oben stehst und die Stimme des Kameramanns im Ohrstöpsel hörst und er zu zählen beginnt „drei, zwei, eins – go!"

Was ist das Nächste? Mit Skiern von einem Achttausender?
Das wäre die logische Fortsetzung. Wobei es nicht um den Mount Everest geht, sondern darum, coole Linien zu finden und Spaß zu haben. Und es wäre fein, wenn ich die Grenzen des Steep Skiing ein bisschen weiter hinausschieben könnte.

Jérémie Heitz / Bild: Mammut
Jérémie Heitz
Geb. am 28. September 1989 im Schweizer Wallis, Profi-Freeskier.

Web: www.jeremieheitz.com



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