„Sich auf wenige, wesentliche Dinge zu konzentrieren, kann sehr erleichternd, öffnend und befreiend sein“ – sagt Österreichs beste Bergsteigerin aller Zeiten, Gerlinde Kaltenbrunner. Ein Interview im Zeichen ­einer außergewöhnlichen Zeit.

Christof Domenig
Christof Domenig


Die 14 höchsten Berge der Welt hat Gerlinde Kaltenbrunner hinter sich gelassen, die Berge wie auch die Natur sind ihre Welt geblieben. „Ein achtsamer, respekt- und liebevoller Umgang mit der Natur und allen Wesen ist der Grundpfeiler ihres ­Lebens“, so steht es in der Biografie auf ihrer Webseite. Und das spürt man auch, wenn man bloß als Wanderer mit ihr unterwegs ist. Im letzten Dezember konnte SPORTaktiv die erste Höhenbergsteigerin der Welt, die alle 14 Achttausender-Gipfel ohne künstlichen Sauerstoff besteigen konnte, bei einer einfachen Winterwanderung in der Region Seefeld in Tirol begleiten.

Kaltenbrunner erzählte damals unter anderem von ihren Plänen einer sechswöchigen Unternehmung in Indien im April und Mai 2020. Aufgrund der Covid19-Pandemie konnte die Oberösterreicherin dieses Ziel logischerweise nicht verwirklichen. Das damals vereinbarte Interview ging jetzt natürlich auch in eine andere Richtung: über den Wert von Verzicht im Bergsport und im Leben, Respekt vor der Natur und Zukunftspläne in einer Zeit, die Planbarkeit kaum zulässt.

Mit dem Erreichen des K2-Gipfels haben Sie den letzten der 14 Achttausender vor knapp neun Jahren erreicht und damit diesen Teil Ihres Lebens abgeschlossen. Rückblickend: Inwiefern würden Sie sagen, hat sich Ihr Leben seither verändert?
Nach meiner Zeit an den Achttausendern hat sich mein Leben insofern verändert, als ich nicht mehr insgesamt bis zu fünf bis sechs Monaten im Jahr auf Expedition bin. Seither verbringe ich mehr Zeit in den heimischen Bergen und auch meine persönliche Weiterentwicklung auf mental-emotionaler Ebene hat sich verstärkt. Yoga, Bergsteigen, Klettern, mit meinen Erfahrungen andere Menschen inspirieren: Das alles liegt mir sehr am Herzen.

Unter gewöhnlichen Umständen hätten Sie im heurigen April und Mai eine Expedition auf einen „schönen 6000er“ unternommen. Welcher Berg wäre genau das Ziel gewesen? Und warum gerade dieser – was macht einen Berg für Sie „schön“?
Wir wären am technisch unschwierigen Kedar Dome (6831 m) im Garhwa-­Himalaya im Norden von Indien, der inmitten anderer großartiger Berge wie zum Bespiel des Shivling liegt, unterwegs gewesen. Mit einigen Freunden wollte ich dort auf Skiern unterwegs sein. Ganz in der Nähe entspringt der heilige Fluss Bhagirathi, der größte Zufluss des Ganges – ein sicher sehr inspirierender Platz. Wir wollten einen Berg mit Skiern besteigen, der technisch unschwierig ist, sodass wir in dem Team, wie wir eben starten wollten, auch gemeinsam unterwegs sein können. Es sollte ein Sechstausender sein und möglichst in Indien – dort waren die meisten aus unserem Team und auch ich noch nie zum Bergsteigen unterwegs.

Wie verbringen Sie in der „Corona-Zeit“ jetzt stattdessen Ihre Zeit, wie halten Sie sich fit?
Auch in dieser sehr außergewöhnlichen Zeit war und bin ich so oft als möglich draußen unterwegs. Der Wald und die Berg­luft stärken das Immunsystem am allerbesten.

Welche bergsportlichen Aktivitäten allgemein in diesem Sommer möglich – und vor allem auch nach Maßgaben der Vernunft – sinnvoll sein werden: Das kann aktuell (Anmerkung: Anfang Mai) niemand wirklich abschätzen. Was würden Sie allen Outdoorhungrigen, die es jetzt in die Berge und die Natur zieht, raten?
Mein Rat ist ganz einfach, eigenverantwortlich und achtsam unterwegs zu sein.

Im Bergsteigen gehört „Verzicht“ im Sinn von Reduktion selbstverständlich dazu: Der Verzicht auf Annehmlichkeiten wie Bett und Dusche auf einer Expedition. Aber auch das Verzichten auf einen Gipfel, wenn die Verhältnisse nicht passen. Welche Rolle spielt dieses Verzichten für Sie im Bergsteigen?
Sich auf wenige, wesentliche Dinge zu reduzieren, kann sehr erleichternd, öffnend und befreiend sein. Wenn ein Gipfel aus welchen Gründen auch immer nicht erreicht werden kann, bedeutet das für mich keinen Verzicht. Eher ist es ein Ansporn, es wieder zu versuchen oder ein anderes mich ansprechendes Ziel zu definieren.

Kann auch der derzeitige erzwungene Verzicht auf potenziell riskante Unternehmungen, auf Reisen etc. eine positive Seite haben? Wie die Erkenntnis, nicht ständig alles verfügbar zu haben und das, was man hat, stärker zu schätzen?
Das Positivste aus meiner Sicht ist, dass sich die Natur zumindest ein Stück weit erholen kann. Obwohl ich selbst gerne reise, tut es so gut, einen so freien Himmel zu sehen. Außer Lebensmittel kaufe ich seit zwei Monaten kaum etwas ein. Wir besitzen so vieles im Überfluss. Ganz anders jedoch sieht es in Ländern wie zum Beispiel Nepal oder Indien aus, hier geht es im Moment ums pure Überleben!

Wenn man über Sie liest, hat man das Gefühl, dass Sie sich der Natur und den Bergen Ihrer Heimat ebenso stark verbunden fühlen wie den hohen Gipfeln der Welt. Was finden und empfinden Sie zum Beispiel auf einer ganz einfachen, schönen Tagestour „vor der Haustür“?
Es ist jedes Mal auch wunderschön für mich, hier in Österreich in der Natur und den Bergen unterwegs sein zu dürfen. Wir genießen hier so viele unterschiedliche Möglichkeiten. Egal, wo ich unterwegs bin, immer empfinde ich eine starke Verbindung zur jeweiligen Situation, ob in der Natur, am Berg, am Wasser oder im Gespräch.

Ihre aktuellen Vorträge behandeln die „innere Dimension des Bergsteigens“. Was kann man sich unter diesem Begriff vorstellen, was ist dabei Ihre Botschaft?
Bei der inneren Dimension des Bergsteigens geht es weniger um das „Was“, sondern mehr um das „Wie“. Ich spreche über meine innere Haltung und Herangehensweise zum Bergsteigen. Dies beinhaltet das Training, die Ernährung und die Stärkung der Intuition und Wahrnehmungsfähigkeit. Zudem spreche ich über Meditation und Visualisierung, und auch darüber wie ich mit Rückschlägen und äußerst schwierigen Situationen umgehe.

Man weiß, dass Ihnen ein respektvoller Umgang mit der Natur ein großes Anliegen ist. Nun ist öfters die Hoffnung zu vernehmen, dass die Krise auch ein Umdenken der Menschen hin zu mehr Bescheidenheit, Respekt vor der Natur mit sich bringt. Glauben Sie, dass diese Hoffnung berechtigt ist?
Auf jeden Fall ist diese Hoffnung berechtigt.

Bei aller Unplanbarkeit: Welche Pläne und Ziele im Bergsport haben Sie für die nahe Zukunft?
Im heurigen Jahr werde ich weiterhin hauptsächlich in den Alpen unterwegs sein. Immer wieder kommen mir jedoch auch Bilder von der wunderschönen Chogolisa (Anmerkung: 7668 m) und dem Gasherbrum IV (7932 m) im ­Karakorum in den Sinn. 

Gerlinde Kaltenbrunner im Interview: Umkehren ist kein Verzicht
Gerlinde Kaltenbrunner

Geb. 13. Dezember 1970. Zwischen 1998 und 2011 bestieg die Oberösterreicherin aus Kirchdorf an der Krems als erste Frau der Welt alle 14 Achttausender ohne künstlichen Sauerstoff. Sie ist unverändert Profibergsteigerin und Vortragende, lebt aktuell am Attersee in Oberösterreich.

Web: www.gerlinde-kaltenbrunner.at