Timothy Olson war drogenabhängig und landete im Knast. Dann begann er zu laufen und wurde zu einem der besten ­Ultrarunner der Welt. Im Interview erzählt er von seinem Rekordlauf über den Pacific Crest Trail – und erklärt, wie es jedem gelingen kann, sein wahres Selbst zu entdecken.

Axel Rabenstein
Axel Rabenstein

Timothy, warum läufst du?
Laufen ist mein Weg, um runterzukommen und meinen Geist zu reinigen. Das Laufen versetzt mich in die Lage, mir selbst zuzuhören und mich mit der Natur zu verbinden, von der ich immer wieder neue Lektionen erhalte und inspiriert werde.

Als Kind hast du an Laufwettkämpfen teilgenommen, nach der High-School bist du abgestürzt. Warum?
Ich war ein ängstliches Kind und hatte Probleme, Kontakte zu knüpfen. Gleichzeitig wollte ich meinen Eltern ein guter Sohn sein, auf den sie stolz waren. In der Schule war ich aber auch nicht gut. Mir lag viel auf der Seele, ich fühlte mich verloren. Als ich auf Alkohol und Drogen traf, war das ein Mechanismus, um Druck abzulassen und sozial offener zu werden.

Was geschah weiter?
Es wurde mehr und mehr, ich musste trinken, um schlafen zu können. Ich konsumierte viel, handelte mit Drogen und kam wegen Drogenbesitzes in Haft. Dann nahm sich einer meiner besten Freunde das Leben. Seine Beerdigung war ein Schlüssel­erlebnis, mein Leben zu ändern. Anfangs bin ich gelaufen, um zu entgiften und nach dem Gefängnis meine Drogentests zu bestehen. Bald merkte ich, wie schön es war, morgens mit einem klaren Kopf aufzuwachen.

Bereust du, was geschehen ist?
Rückblickend muss ich sagen, dass ich schlechte Entscheidungen getroffen habe. Ich würde das niemandem empfehlen. Aber für mich war diese Reise so vorgesehen und ich bin dankbar für alle Erfahrungen, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin.

Wie ging es weiter?
Mein Leben änderte sich komplett, als ich mit meiner Frau nach Oregon zog. Dort fand ich neue Freunde, einige von ihnen liefen 100-Meilen-Rennen, das packte mich total. Ich begann zu meditieren und ein rundum gesundes Leben zu führen.

Hast du dich als Person geändert? Oder nur die Art und Weise ein ­extremes Leben zu führen?
Ich denke, dass ich immer nach einem Weg gesucht habe, mich selbst zu finden. Drogen waren der falsche Weg, aber vielleicht muss man sich verlaufen, um zu erkennen, welcher Weg der einzig richtige ist. Es ging mir dreckig, aber ich bin aufgewacht und habe mir die Frage gestellt, wie ich wirklich leben möchte. Schließlich kam der Ruf der Natur, loszuziehen und mich auf diese Weise selbst zu entdecken. Ultrarunning ist definitiv extrem, es wirbelt dein Innenleben auf. Für mich ist Laufen das perfekte Tool, mich mit meinem wahren Selbst zu verbinden und darauf zu hören, was mir mein Herz mitteilen möchte.

Nach deinem ersten 100-Meilen-­Lauf im Jahr 2011 hast du 2012 und 2013 den Western States Endurance Run gewonnen. Wie wurde in so kurzer Zeit aus einem passionierten Ausdauerläufer einer der besten ­Ultrarunner der Welt?
Früher fühlte ich mich als Opfer, als wäre die Welt gegen mich, als hätten mich andere Menschen im Stich gelassen. Ich fühlte mich minderwertig und hatte Angst davor, offen zu sein. Während meines Trainings erkannte ich, dass diese negativen Gedanken in Wahrheit gar nicht zu mir gehörten. Ich nutze das Laufen bis heute, um dunkle Bereiche meiner Seele auszuleuchten, mich zu verstehen und zu akzeptieren, wie ich bin. Ich denke, dass sich mein Mindset extrem verändert hat. Das hat eine besondere Energie freigesetzt. Und dann wollte ich einfach gewinnen, ich wollte erleben, dass ich alles sein kann, auf das ich mich einlasse.

Im Sommer 2021 hast du in Rekordzeit die 4265 Kilometer des Pacific Crest Trails absolviert. Wie liefen diese 52 Tage ab?
Ich bin morgens um 5 Uhr aufgewacht und hatte keine Ahnung, wie ich schon wieder 80 Kilometer durch die Wildnis rennen sollte. Ich habe mir einen Proteindrink aufgemacht und versucht, mit der Massagerolle meine Muskeln aufzuwecken. Dann bin ich losgelaufen und habe nach ein oder zwei Meilen erst einmal meditiert.

Was ging dir durch den Kopf?
Für mich waren diese zehn Minuten die wichtigste Zeit des Tages. Ich habe ruhig geatmet und einen Bodyscan durchgeführt. Was sagen die Oberschenkel? Wie geht’s der Achillessehne? Zwickt die linke Wade noch? Ich kann jedem Sportler empfehlen, den Körper mit einer täglichen Meditation innerlich abzutasten. Du erhältst wichtige Informationen, um Verletzungen zu vermeiden. Außerdem verrät dir dein Puls, ob du intensiv trainieren kannst oder dich lieber ausruhen solltest.

War dir beim tagelangen Laufen auch mal langweilig?
Zu keiner Sekunde. Ich habe die Schönheit der Umgebung so intensiv wahrgenommen. Irgendwann hatte ich das Gefühl, 16 Stunden am Tag wie ein Tier durch die Natur zu streifen, ihre Botschaften aufzunehmen und mit ihr zu verschmelzen. Als mich eine Klapperschlange haarscharf verfehlte, machte mir das keine Angst. Stattdessen dachte ich mir, dass ich es dankbar aufnehme – als meinen Rattlesnake-Download, in der Dämmerung besser aufzupassen. Hier draußen habe ich gelernt: Die Natur ist der Boss. Du musst dich mit ihr bewegen, denn du wirst dich niemals gegen sie durchsetzen.

Wo hast du geschlafen?
Meine Familie ist im Wohnmobil mitgefahren, bis abends dorthin zu gelangen, war immer ein gutes Ziel. Ich schlief aber auch häufig im Wald. Anfangs schreckte ich bei jedem Knacken auf, nach einigen Nächten zog ich den Schlafsack über den Kopf und schon war ich weg. Trotzdem bin ich dauernd aufgewacht. Ich fror, hatte Krämpfe, Hunger, Schmerzen … Auf dieser Reise haben mich intensive Gefühle begleitet.

Vielleicht muss man sich verlaufen, um zu erkennen, welcher Weg der einzig richtige ist.

Timothy Allen Olson

Du hattest eine Begegnung mit einem Puma. Was ist passiert?
Das war oben in Oregon. Ich hatte kurz vorher meine Crew getroffen, die mich mit Wasser für die nächsten Tage und ein paar frischen Tacos versorgt hatte. Es war gegen neun Uhr abends, tief im Unterholz. Ich sah eine dunkle Silhouette, leuchtete mit der Stirnlampe und plötzlich stand ich Auge in Auge mit dem größten Puma, den ich je gesehen habe.

Was hast du getan?
Ich dachte, der frisst mich. Noch dazu mit den ganzen Tacos, die ich vor der Brust trug. Ich habe versucht ruhig zu atmen und bin langsam weitergangen. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um. Der Puma senkte den Kopf und es sah fast so aus, als nickte er mir zu, ehe auch er weiterlief. Es war wirklich magisch, der König des Waldes gab mir die Erlaubnis zu passieren! In diesem Moment fühlte ich mich voll und ganz von der Natur akzeptiert. Für mich war es die spirituelle Bestätigung, dass ich das Richtige tat: weil ich meiner Intuition gefolgt bin und hier draußen war, um mich mit der Natur zu verbinden.

Ist es das, was du anderen mitgeben möchtest? Ihrer Intuition zu folgen?
Absolut! Man muss deshalb nicht 2000 Meilen durch die Wildnis rennen. Vielleicht startet man das Business, von dem man immer geträumt hat. Tritt eine besondere Reise an. Sagt einer Person, die man jeden Tag sieht, wie viel sie einem bedeutet. Wir alle sollten noch mehr auf unser Herz hören.

Und das Laufen kann uns dabei ­helfen?
Ich glaube schon. Jeder einzelne Schritt macht uns freier. Und schenkt uns Frieden. 

Die Natur ist der Boss
Timothy Allen Olson

wurde am 28. August 1983 in Amherst (Wisconsin) geboren. 2012 und 2013 gewann er den Western States Endurance Run über 100 Meilen. Im Juli 2021 stellte er einen neuen Rekord für den Pacific Crest Trail (PCT) auf: Der von ­adidas TERREX unterstützte Athlet bewältigte den 4265 Kilometer langen Fernwanderweg von Mexiko bis Kanada in 51 Tagen, 16 Stunden und 55 Minuten. Sein Film „The Mirage“ erzählt von diesem Erlebnis und ist im Rahmen der European Outdoor Film Tour 2022 zu sehen.

WEB: www.eoft.eu // @timothyallenolson