Frauen am Steuer. Johanna Urkauf und ihre Mutter Carol Urkauf-Chen leiten Österreichs größten Fahrradhersteller KTM. Im Interview sprechen die beiden über E-Bike, Tour de France und das Fahrrad als Mobilitäts- und Gesundheitsmittel.

Klaus Molidor
Klaus Molidor

Neue Normalität. Großer Besprechungsraum, großer Abstand. Johanna Urkauf, Chefin des Fahrrad-Komplettanbieters KTM und ihre Mutter, Carol Urkauf-Chen, empfangen zum Interview im Firmensitz in Mattighofen. „Sie sind die ersten Gäste seit Langem“, sagt Seniorchefin Carol Urkauf-Chen. Die Krise beschäftigt die beiden Damen genauso wie das Unternehmen.

Hatten sie während des Lockdowns Sorge um das Unternehmen, dass es in Turbulenzen kommt oder sogar zusperren muss?
Johanna Urkauf (JU): Eine gewisse Unsicherheit war vorhanden. Wir sind aber sehr bodenständig und versuchen vernünftig zu planen. Und wir haben jeden Tag geschaut in welche Richtung entwickelt es sich. 
Carol Urkauf-Chen (CUC): Wenn ein zweiter solcher Shutdown wie im März kommen würde, dann wäre es wirklich sehr schwierig. Nicht nur für uns. Das kann sich weltweit niemand leisten. Wir hoffen, wir zittern jeden Tag. Die Urlaubszeit bereitet uns große Sorgen. Viele unserer Mitarbeiter kommen aus dem Ausland, die fahren dann während der Betriebsferien in die Heimat. Und wenn die dann zurückkommen. Uuuh. 
JU: Vielleicht beginnen danach auch nicht alle gleichzeitig, dass nicht alle beisammen sind, dann schauen wir, wie es weitergeht. Wir überlegen auch, dass sich die Mitarbeiter testen lassen und wir die Kosten übernehmen. 

Wäre die Krise nicht eine Chance für die ganze Branche zu sagen: Wir brauchen nicht jedes Jahr eine ganz neue Palette? 
CUC: Eigentlich war das ja schon geplant. Viele Händler haben gesagt: Bitte, bitte, lassen wir die Modelle im nächsten Jahr gleich. Weil sie vom Beginn der Coronazeit die Lager voll hatten. Das Problem ist: Die neuen Räder sind schon am Weg hierher. Von der Bestellung der Rohmaterialien und der Rahmen vergeht ja fast ein Jahr bis zum fertigen Produkt. Das lässt sich also nicht mehr so einfach stoppen. Zum Glück war die Nachfrage nach den ersten Lockerungen aber so groß, dass die Händler die neuen Produkte brauchen.
JU: Außerdem braucht es doch eine gewisse Weiterentwicklung. Wir wollen dem Endkunden auch immer wieder etwas Besseres und Neues bieten.
 

3 Buchstaben, 2 Frauen, 1 Mission: die KTM-Chefinnen im Interview

Wird angesichts des anhaltenden E-Bike-Booms das normale Fahrrad zum Nischenprodukt?
CUC: Vor fünf Jahren war der Anteil bei 10 Prozent, heute sind wir bei ca 50 Prozent und das wird noch weitergehen.
JU: Aussterben wird das „normale“ Rad nicht. Es wird immer Leute geben, die ein nicht motorisiertes Fahrrad fahren wollen. Das Schöne am Produkt Fahrrad ist, dass es so vielseitig ist und man damit so vielen Leuten Freude bereiten kann. 

Geschäftsführer Stefan Limbrunner betritt den Raum. Carol Urkauf-Chen hat ihn dazugebeten, um uns die aktuellen E-Bike-Zahlen zu präsentieren. 

Stefan Limbrunner (SL): Es geht in Österreich immer mehr in die Richtung E- Bike. Von den 400.000 pro Jahr verkauften Rädern sind gut 150.000 schon E-Bikes. Das Gute für uns daran ist, dass E-Bikes öfters erneuert werden. Bei einem Mountainbike um 1000 Euro können sie nicht sofort sagen, ob das ein Rad von 2010 oder 2020 ist. An der Radgröße vielleicht. Aber wenn sie ein E-Bike von 2010 mit einem von 2020 vergleichen, dann haben sie einen technischen Fortschritt. Und solange sie einen technischen Fortschritt optisch rüberbringen, tauschen die Leute ein. Früher hat man nach ungefähr 10 Jahren ein neues Rad gekauft, mit dem E-Bike sind es drei bis fünf Jahre.

Es gibt Gerüchte, dass KTM auch ein Tour-de-France-Team ausrüsten will.
CUC: Ja, für heuer haben wir das geschafft. Ein Team beim Giro d’Italia, ein Team bei der Tour de France. Dort fährt mit Sebastian Schönberger sogar ein Österreicher aus unserer Gegend.
SL: Letztes Jahr beim Start der Tour in Brüssel sind wir von Teambus zu Teambus gegangen und haben gefragt. 

Was kostet so ein Engagement?
CUC: Millionen. Millionen. Aber wir müssen das machen. 
SL: Das zahlt ja auch sehr viel in die Marke KTM ein. Das sind vier Wochen Dauerwerbung. Letztlich ist das auch gut für Österreich als Fahrradstandort. 

Sie haben alle Abteilungen durchlaufen, wie sehr hat sie das vorbereitet auf den jetzigen Job?
JU: Es war auf jeden Fall eine Grundlage, weil so hab ich unsere Leute besser kennenlernen dürfen, was wichtig ist für eine gute Zusammenarbeit. Es ist eine sehr wichtige Grundlage, dass man Arbeitsinhalte und Prozesse der einzelnen Abteilugen kennt, um sie koordinieren und organisieren zu können. Und: Ich hab die Leute kennengelernt und die Leute mich.

Wie schwer war es für sie als Frau, so ein Unternehmen zu leiten?
CUC: Schwer. Ich hab mich so gewundert, dass meine Tochter diese Aufgabe übernehmen will. Aber wenn sie Interesse hat. Das ist das Wichtigste. Ich bin das ganze Leben in der Fahrradbranche und natürlich ist das nicht einfach für eine Frau. Aber ich habe es geschafft.

Ist es für die Tochter jetzt leichter?
CUC: Es ist genauso schwer. 

Hat sich da wirklich nichts verändert?
JU: Es wird jetzt bei uns nicht groß thematisiert, es ist eine sehr natürliche Zusammenarbeit. Ich kann mich erinnern, dass es schwierig war, als ich noch klein war. Die wirtschaftliche Situation hat da noch ganz anders ausgeschaut, es war alles andere als ein Zuckerschlecken. (Zur Mutter:) Du warst neu in der Firma, neu in der Gegend. Wir kennen uns jetzt alle gegenseitig. Das hilft sicher und macht es für mich sicherlich einfacher.

Es war sicher auch in der ganzen Branche schwerer.
CUC: Es war nicht einfach. Ich bin hergekommen, ich konnte damals kein Wort Deutsch. Ich konnte ein bisschen Englisch, aber das konnte hier vor 30 Jahren kaum jemand. Wir sprechen eine gemeinsame Fahrrad-Sprache, mit Zeigen und Deuten und Sprechen. Dann hab ich in der Nacht, als die Kinder geschlafen haben, selbst das mindeste an Vokabular gelernt. Ich war bis vor 5 Jahren, also über 25 Jahre allein in der Firma. 

Vor rund zwei Jahren haben Sie sich in den Aufsichtsrat zurückgezogen. Wie schwer war es denn auch Verantwortung abzugeben?
CUC: Das ging von einem Tag auf den anderen. Ich habe mein Büro ausgeräumt, fertig. Ich habe kein Büro mehr hier. Für mich war es einfach. Aber ich bleibe ja als Beraterin erhalten.
JU: Mir ist vorgekommen, dass es nicht schwer war für dich die Verantwortung abzugeben, aber wir sind alle sehr glücklich und dankbar, dass meine Mutter noch so eine große Beratungsfunktion übernimmt und wir arbeiten auch täglich zusammen.

Das Schöne am Produkt Fahrrad ist, dass es so vielseitig ist und man damit so vielen Leuten Freude bereiten kann. 

Johanna Urkauf

Was macht das mit dem Verhältnis Mutter-Tochter, wenn man beruflich so eng zusammenarbeitet?
JU: Für mich ist das Verhältnis sehr natürlich.
CUC: Natürlich kann man einen kleinen Krach nicht vermeiden, aber ich habe ihr immer gesagt: „Wir haben genug Probleme in der Firma. Privat zu streiten hat da überhaupt keinen Sinn.“ Und sie ist Gott sei Dank sehr klug. Ich verhalte mich auch nicht immer ganz richtig. Ich bin ein Mensch, ich spreche sofort und so schnell und direkt. Ja oder nein, da bin ich sehr deutlich. Zu Mitarbeitern und Familie. Manchmal können das die Leute nicht akzeptieren. Wenn ich mir nicht sicher bin, ob meine Entscheidung richtig ist, lade ich Leute ein, die mich in dem Bereich gut beraten können, und höre zu, höre mir die Meinungen der Mitarbeiter an und dann entscheide ich. Ich gebe den Mitarbeitern auch immer einen Grund, warum ich glaube, dass meine Entscheidung die richtige ist. Ich habe nie gesagt: Du machst das so und so und aus, sondern meine Entscheidung immer erklärt. 

Wie sind Sie eigentlich mit dem Thema Fahrrad in Berührung gekommen?
CUC: Nach dem Studium habe ich eine Arbeit gesucht und die war in der Fahrradbranche. Und seitdem bin ich dabei. Zufall. Nur Zufall. Damals als ich begonnen habe, waren Fahrräder ein Sonnenuntergangsgeschäft. Meine Tante hat mich sogar gefragt: Hast du genug zu essen? Verdienst du genug? Es war nicht immer einfach. Aber ich habe ein Leben lang gewartet und gearbeitet. Wer hätte vor 40 Jahren geahnt, dass es einmal so einen E-Bike-Boom geben wird. 

Wie sehr muss man sich bei Tretlagern, Getriebe und Co. auskennen, um so ein Unternehmen führen zu können?
JU: Man muss sich schon auskennen.
CUC: Das ist für mich absolut notwendig. Ich will persönlich ja auch nicht mit Kunden sprechen und keine Ahnung von Fahrrädern haben. Wenn ich ein Produkt sehe, denke ich, wo kann ich es noch verbessern. Dazu muss man die Technik verstehen, sonst geht das nicht. In der Vergangenheit hab ich Zigtausende Fahrräder gesehen und weiß, was leicht zu verkaufen ist und was nicht. Designer sind oft Künstler und denken nicht wirtschaftlich. Dann muss man sie überzeugen. Manchmal lasse ich sie ihre Wünsche auch umsetzen, bis sie sehen – oh, das verkauft sich nicht. Bei 500 Mitarbeitern brauchen wir aber Umsatz. Designer zu überzeugen ist schwer. Aber so ist das Leben. 

Diese Aufgabe kann ja jetzt ihre Tochter übernehmen.
CUC: Aber zuerst muss sie sich mit der Technik auskennen und beschäftigen. Ein Leben lang. 

Wir sprechen eine gemeinsame Fahrrad-Sprache mit zeigen und deuten und sprechen.

Carol Urkauf-Chen

Motorrad-KTM-Chef Pierer hat gesagt, irgendwann müsse die „Marke heimkommen“, weil man sich gemeinsam gegen die großen Player auch am E-Bike-Markt besser wappnen könne.
CUC: Dazu gibt es eine endgültige Entscheidung vom Obersten Gerichtshof. Die Fahrradbranche bleibt exklusiv bei uns. Mein Ex-Mann hat das Geschäft damals gekauft und die Sparte gehört auf ewig uns. 

Was bedeutet das Fahrrad für sie?
JU: Ich sag gern: Wir verkaufen Freude an Bewegung. Es ist etwas Schönes, dass man an etwas arbeiten kann, das den Menschen Freude und Gesundheit bringt. Das Rad ist einfach ein extrem emotionales Produkt. Da stecken viele Kindheitserinnerungen drinnen. Man ist viel mobiler. Schon im Volksschulalter, die ganzen Abenteuer. Das hat fast jeder.
CUC: Ein Kunde hat geschrieben, dass er nach einer Lungenkrankheit nur 30 Prozent Lungenfunktion hatte und durch unser Rad konnte er trainieren und hat 10 Prozent zugelegt. Jedes Jahr hat er geschrieben, bis er auf 60 Prozent war. Das ist sensationell. 

Abschließend und weil es heuer das beherrschende Thema ist: Was haben sie aus der Krise gelernt?
JU: Sie ist ja noch nicht vorbei. 
CUC: Gott sei Dank haben wir vorigen September die Produktionshalle komplett neu gebaut. Ein Jahr hatten wir dahinter ein Provisorium. Dort war es sehr eng, bis die neue Halle fertig wurde. Jetzt haben die Leute genug Platz um Abstand zu halten. Eigentlich wollte ich erst das Lager und dann die Produktion neu bauen. Dann ist der Arbeitsinspektor gekommen und hat gesagt: Wo Menschen drinnen sind, ist wohl ­wichtiger, als wo die Ware drinnen ist. Ich hab gesagt: Danke für den Hinweis und hab zuerst die Produktionshalle gebaut. 

Das Rad ist ein extrem emotionales Produkt. Da stecken viele Kindheitserinnerungen drinnen. Die hat fast jeder. 

Johanna Urkauf

KTM
Das Unternehmen wurde 1951 durch Ernst Kronreif und Hans Trunkenpolz in Mattighofen gegründet und stellte Motorfahrzeuge und Fahrräder her. 1991 musste die KTM Fahrrad GmbH Konkurs anmelden. Im Dezember 1991 kaufte Radgroßhändler Hermann Urkauf aus Salzburg die Fahrradsparte. Die Motorradsparte wurde 1992 neu gegründet. Beide Untnernehmen haben weiter ihren Sitz in Mattighofen. Am 7. Jänner 1996 übernahm Carol Urkauf-Chen die Geschäftsführung und konnte das Fahrradunternehmen vor der Insolvenz retten, seit 1997 ist sie alleinige Inhaberin der KTM Fahrrad GmbH, 2018 wechselte sie in den Aufsichtsrat und ihre Tochter Johanna Urkauf in die Geschäftsführung.

WEB: www.ktm-bikes.at