Er triumphierte auf den legendären Abfahrten in Wengen und Kitzbühel. Er gewann den Weltcup im Super-G und wurde zum ältesten Ski-Weltmeister der Geschichte. Wie einem das gelingt? Indem man weghört, wenn das Engelchen zur Besonnenheit rät. Und stattdessen öfter mal einen Teufelsritt hinlegt ...

Von Axel Rabenstein


Hannes, du bist in Radstadt aufgewachsen. Was siehst du, wenn du an deine Kindheit in den Bergen denkst. Sonne oder Schnee?
"Ich sehe Schnee! Es ist ein richtig schöner, verschneiter Tag. Und dann sehe ich mich, wie ich mit meinen Teamkollegen zwischen den Stangen am Trainieren bin."

Wann war für dich klar, dass du Ski-Rennfahrer werden möchtest?
"Da gab es ein Schlüsselerlebnis: Als Rudi Nierlich 1991 in Saalbach den WM-Titel im Riesenslalom gewann, hat es mich gepackt. Ich war fasziniert von dieser Begeisterung und wollte eines Tages selbst so einen Titel holen. Dieses Ziel habe ich verfolgt. Und Kinderziele verliert man nicht so leicht aus den Augen."

Das war vor 25 Jahren. Heute blickst du auf eine glanzvolle Karriere zurück. Wie schaffst du es, dich immer noch zu pushen?
"Ich weiß, wie schön es ist, wenn nach einem Rennen die Anspannung abfällt. Du bist voll fokussiert, es brennt in den Beinen und tut auch mal weh. Aber dann schwingst du unten im Ziel ab und weißt, dass du ans Limit gegangen bist. Es ist ein erhabenes Gefühl, zu spüren, dass man den 100 Prozent der eigenen Leistungsfähigkeit ganz nahe gekommen ist."

Rät einem der gesunde Menschenverstand nicht davon ab, diese 100 Prozent auszutesten?
"Und wie! Bei mir streiten sich immer das Engelchen und der Teufel. Der Engel macht dir gerne mal einen Strich durch die Rechnung und sagt: Tu langsam, Hannes! Der Teufel sitzt auf der anderen Schulter und flüstert mir ins Ohr: Gib Gas, du willst doch was gewinnen! Die beiden muss man in Einklang bringen. Nicht zu viel riskieren, aber trotzdem wettkampffähig sein und ans Limit gehen. Da verlierst du auch mal die Linie und fühlst dich unwohl. Dabei trotzdem volles Tempo zu gehen ... das ist die Kunst."

Für den Sieg muss man also sprichwörtlich einen "Teufelsritt" hinlegen?
"Meistens schon. Es passiert mir regelmäßig, dass ich im Ziel abschwinge und mir denke, dass es kein perfekter Lauf war. Aber wenn es sich perfekt anfühlt, warst du selten schnell. Wenn du dir allerdings denkst: Das war knapp! Der Sprung war heikel! In der Kurve hätte es mich fast zerrissen! Dann leuchtet schnell einmal der 'Einser' auf der Anzeigetafel auf."

Der Blick auf die Anzeigetafel ist also oft eine Überraschung?
"Definitiv. Es ist eine Wundertüte, das eigene Gefühl kann einen ganz schön täuschen. Aber das ist ja auch das Faszinierende an unserem Sport: Erst, wenn du unten abschwingst, verrät dir die Zeit, wie gut es wirklich war."

Kann man sagen, dass du den Teufel lieber magst als den Engel?
"Naja, ich mag sie beide. Aber der Teufel hat natürlich seinen Reiz. Er bringt dich in Gefahr und sorgt für einen Adrenalinkick. Diese innere Kraft beeindruckt mich immer wieder, sie macht einen beinahe süchtig. Wenn du alles riskierst und deshalb gewinnst, ist das ein besonderes Glücksgefühl. Wer das einmal erlebt hat, der will es immer wieder."


Was geht dir durch den Kopf, wenn du oben am Start der "Streif" stehst?
"Nicht besonders viel. Ich visualisiere, wie ich die ersten beiden Schwünge fahre und bereite mich mental auf die Mausefalle vor. In Kitzbühel will jeder gewinnen. Um eine Chance zu haben, musst du dich am absoluten Limit bewegen. Wenn du da nicht voll fokussierst bist, wird's gefährlich."

Gefährlich wird's aber auch, wenn man bei so einem Rennen mit einem Bandscheibenvorfall an den Start geht. So wie du 2014 ...
"Das war in der Tat ein wenig leichtsinnig. Ich hatte schon mehrere Monate lang Rückenschmerzen, ehe ich 2014 in Kitzbühel angetreten bin. Im zweiten Training bekam ich einen Schlag ab, der Bandscheibenvorfall wurde akut. Das haben wir unterschätzt. Mit so einer Verletzung fährt man wohl besser ins Krankenhaus, als die Streif nach unten."

Trotzdem geschah das Undenkbare: Du hast dieses Rennen gewonnen. Wie ist ein Erfolg gegen die weltbesten Fahrer trotz eines solchen Handicaps möglich?
"Ich hatte zwar Schmerzen, wusste aber nicht, wie schlimm es war. Mein Ziel war es, einfach nur sicher runterzukommen. Dass ich am Ende der Schnellste war, ist schon eine unglaubliche Geschichte. Und natürlich großes Glück! Aber ich war eben zu 100 Prozent fokussiert und bin wohl mit einer extremen Körperspannung ins Rennen gegangen."

Ist das der Schlüssel zum Erfolg? Das perfekte Zusammenspiel von Körper und Kopf?
"Klar, das muss funktionieren. Während in der Kompression ein Vielfaches deines Körpergewichtes auf deinen Bewegungsapparat presst, muss sich der Kopf schon auf die nächste Kurve konzentrieren. Der Körper fährt, der Kopf muss vorausdenken. Wenn du auch nur einmal zu spät dran bist, dann liegst du im Netz."

So wie in Kitzbühel 2016: Du bist in der Kompression gestürzt und hart mit dem Kopf aufgeschlagen ...
"Erstaunlicherweise ist mir kaum etwas passiert, ich hatte nur einen Brummschädel. Aber dafür trägt man eben einen Helm. Zudem hatte ich einen Airbag an. Ich denke, die Schutzmaßnahmen sind ein wichtiger Faktor, um diesen spektakulären Skisport – auch im Sinne der Zuschauer – dauerhaft zu ermöglichen."

Fühlt ihr euch gut genug geschützt?
"Ich denke, gerade bei den Helmen hat sich in den vergangenen beiden Jahren noch einmal viel getan. Dank Carbon sind sie angenehm leicht, damit es einem auf unruhigen Strecken nicht zu sehr den Kopf hin und her haut. Gleichzeitig haben die Helme jetzt noch mehr Volumen, um wirklich effektiv zu schützen. Wir Fahrer versuchen, Jahr für Jahr besser zu werden. Und unsere Ausrüster, mit denen wir uns rege austauschen, tun das Gleiche. Sie sehen unseren Schutz als Prozess, der niemals stehen bleibt. So tragen wir dann dazu bei, auch Freizeitskifahrern die bestmöglichen Sicherheitsprodukte zur Verfügung zu stellen."

Inzwischen bist du 36 Jahre alt, hast neben der "Streif" in Kitzbühel auch andere Klassiker wie die Lauberhorn-Abfahrt in Wengen gewonnen. Sind es Rennen wie diese, die einen einfach nicht loslassen?
"Solche Klassiker machen den Sport natürlich besonders. Kitzbühel und Wengen sind Rennen, die keinen echten Rhythmus haben, dir zu jeder Sekunde alles abverlangen. Und genau das ist der Grund, warum wir diesen Sport ausüben."

Würdest du es nicht gerne mal gemütlicher angehen lassen?
"Das geschieht automatisch. Für die Rennen muss ich mich langsam wirklich am Riemen reißen, um noch volles Risiko zu gehen. Ich werde nicht jünger. Aber Skifahren ist nun mal der schönste Sport der Welt."

Bleibt dir überhaupt mal Zeit zum Powdern?
"Leider kaum. Nach der Saison bin ich oft zu kaputt. Und während der Saison habe ich wirklich keine Zeit. Riskante Hänge zu fahren oder Felsvorsprünge runterzuspringen kann ich mir sowieso nicht erlauben. Da wäre die Verletzungsgefahr zu groß. Ich kenne mich. Und weiß, dass ich es gerne mal übertreibe."

Und nach deiner Karriere? Wie werden deine Skitage dann aussehen?
"Ich habe gerne Platz auf der Piste und werde früh an der Gondel stehen. Nach ein paar Abfahrten kehre ich auf einen Kaffee oder Kakao in die Hütte ein. Und wenn ich mit Freunden unterwegs bin, darf's gegen Mittag auch einmal ein Bierchen sein."

Hannes Reichelt / Bild: Salomon

Der Titelsammler
HANNES REICHELT wurde am 5. Juli 1980 in Altenmarkt im Pongau (S) geboren. Bei seinem Weltcup-Debüt in Gröden 2002 fuhr er mit Startnummer 35 auf den zweiten Platz. Bis dato stand er 39-mal auf einem Weltcup-Podium, holte zwölf Siege und gewann sowohl auf der „Streif" in Kitzbühel (2014), am „Lauberhorn" in Wengen sowie auf der „Kandahar" in Garmisch (2015, 2017).

Im gleichen Jahr krönte er bei der WM in Beaver Creek seine Karriere mit der Goldmedaille im Super-G, die ihn mit 34 Jahren und 215 Tagen zum ältesten Alpinski-Weltmeister aller Zeiten macht. Hannes Reichelt ist mit der früheren Rennläuferin Larissa Hofer verheiratet und lebt in Radstadt (Salzburg).

Web: www.hannes-reichelt.com