Ob ruppige Schotterpisten oder endlose Asphaltbänder, ob fürs Pendeln oder die Ultradistanz – auf dem Gravelbike scheinen die Möglichkeiten endlos.

Michael Forster

Das Gravelbike gilt als die Eier legende Wollmilchsau, der Allrounder für jedes Terrain, der Alleskönner unter den Zweirädern. Schnittige Dropbar und Reifen fürs Grobe versprechen Speed auf Asphalt und Wendigkeit im Gelände. Dank dieser Vielseitigkeit erfreut sich der Hybrid aus Renner und Mountainbike immer größerer Beliebtheit, neben Sportlern und Spaßbikern etwa auch bei Pendlern oder abenteuerlustigen Radurlaubern: „Man kann damit nahezu überall unterwegs sein und auch einfach mal spontan abbiegen, wenn einem der Sinn danach steht. Die Möglichkeit, fernab von geteerten Straßen, aber dennoch zügig unterwegs zu sein, und die Spontanität der Routenwahl machen das Gravelbike so einzigartig“, hält Roman Högerle von Merida & Centurion Germany fest. Auf den ersten Blick scheinen mit dem Gravelbike alle Grenzen zu fallen, man muss aber auch beim Bike für jede Lebenslage etwas genauer hinsehen: „Es gibt verschiedene Bikes, die für unterschiedliche individuelle Vorlieben und unterschiedliche Interpretationen von Gravel sehr spezifisch entwickelt und ausgestattet sind, wenngleich einige Modelle besonders allroundtauglich sind“, wie Johann Laux von Specialized ergänzt.

Während also der Pendler sportlich vom Schreibtisch nach Hause kommen möchte und dabei für den Umweg durchs Gelände gerüstet sein will, stellt der Bikeurlauber höhere Ansprüche an Komfort und die Langstreckentauglichkeit. Trotz unzähliger Einsatzmöglichkeiten ist Gravelbike also nicht gleich Gravelbike.

Wald und Wiesen – und Straßen 
Mindestens so vielseitig wie diese Bikes sind die Ansprüche, die daran gestellt werden. Wenn das Gravelbike aber weder Renner noch MTB ist – was zeichnet dann ein reinrassiges Gravelbike aus? Die Reifen sind ein wichtiger Faktor, meint Johann Laux dazu, außerdem „überzeugt das Specialized Diverge STR etwa mit Dämpfungselementen, die – gerade auch auf langen Strecken – gezielt für Komfort sorgen, ohne Effizienz einzubüßen. Beim Specialized Crux hingegen liegt der Fokus besonders stark auf Agilität und einem geringen Gewicht“.

Die vielfältigen Möglichkeiten der vermeintlichen All-in-one-Lösung kennt auch Roman Högerle: „Je nach Unterart des Gravelbikes ist auch die Geometrie etwas entspannter als beim Renner. So können auch weniger sportliche Fahrerinnen und Fahrer darauf längere Strecken zurücklegen“.

Für sportliche Reisen mit maximal flexibler Routenwahl und einem schlanken Setup ist ein Gravelbike sehr gut geeignet.

Kleine Extras
Mit dem Mix aus On- und Off-Road-Qualitäten hat die Radindustrie etwas auf die Räder gestellt, das einen nur selten vor unüberwindbare Hindernisse stellt. Diese Qualitäten kann auch der Specialized-Experte nur unterstreichen: „Das ergibt sich allein schon durch die Möglichkeit, auf sehr vielen unterschiedlichen Wegen, vom perfekten Asphalt bis hin zum leichten Singletrail, fahren zu können. Langstreckenorientierte Geometrien, Befestigungsmöglichkeiten für Gepäck und Ausrüstung, Dämpfungselemente, um durch Komfort auch auf langen Strecken Leistung erbringen zu können, sind weitere Argumente für das Gravelbike – das gleichzeitig leicht, agil und effizient bleibt.“

Mehrere Tage im Sattel sollten dank Dämpfung und schonender Ergonomie also kein Problem sein, das sieht auch Högerle so: „Trotz der etwas entspannteren Geometrie als beim Rennrad, ist es doch sportlicher als Trekkingräder. Daher muss vorab geklärt werden, was die Zielsetzung der Radreise ist. Für sportlichere Touren mit maximaler Flexibilität in der Routenwahl und einem schlanken Setup ist ein Gravelbike sehr gut geeignet. Zudem besitzen Gravelbikes oft sinnvolle Anbringungsmöglichkeiten am Rahmen, die für eine Radreise nützlich sind.“ Neben Fahrvergnügen bieten sie auch noch die Möglichkeit, alles, was man auf Reisen so braucht, ordentlich zu befestigen. Ein weiteres Feature ist also die Packesel-Qualität. Pendeln und lange Ausfahrten auf Asphalt, Schotter, Wald und Wiesen genießen sowie dank vielfältiger Montagemöglichkeiten vollgepackt Richtung Freiheit ziehen: Sind Gravelbikes damit sogar noch mehr als die berühmte Eier legende Wollmilchsau? 

Endlose Abenteuer
Die Idee, sich tagelang in den Sattel zu schwingen und abseits des Asphalts an die Adriaküste, oder in die Schweizer Alpen zu radeln, lässt das Abenteurerherz höherschlagen. Aber auch die geborenen Racer finden immer mehr Gefallen am Graveln und so sprießen schon im Frühling vielerorts Jedermann-Gravelrennen wie die Schneerosen aus dem Boden – vom kleinen Rennen bis zur Ultradistanz.   Aber wie gehen Reisetauglichkeit und Renneinsatz zusammen? Wie immer sind auch hier die Details entscheidend – wie der Merida-Experte erklärt: „Das Bike sollte relativ leicht sein und eine gute Reifenfreiheit mitbringen, damit breitere Gravelreifen bequem im Rahmen Platz finden. Um in der Abfahrt eine bessere Kontrolle zu haben, empfiehlt sich ein Lenker mit leichtem Flare. Natürlich ist auch eine racetaugliche Übersetzung wichtig. Unsere Merida-Scultura-Endurance GR- oder unsere Silex-Modelle sind hier erstklassige Kandidaten.“ Und ein Detail gilt es hier laut Specializeds Johann Laux beim Renneinsatz besonders zu beachten: „Die Reifen prägen den Charakter eines Bikes entscheidend mit. Mit dem Specialized Pathfinder TLR bieten wir einen Allrounder mit profilloser Lauffläche und griffigem Profil in den Schulterbereichen, der besonders auf kompakten Untergründen und auch auf Asphalt überzeugt. Der Tracer TLR rollt auf sehr unterschiedlichen Untergründen sehr effizient.“

Ob man sich nun auf der Suche nach neuen Abenteuern von Punkt A ins Unbekannte aufmachen oder um das Schlangestehen im mor­gendlichen Berufsverkehr herumkommen oder sich einen Tag lang abseits der bekannten Pfade bewegen will – und das mitunter recht flott: Das Gravelbike ist dabei der perfekte Begleiter. Aber welches darf‘s am Ende sein?

Am Ende führt nichts an der schweißtreibenden Frage vorbei: Wie viele Räder dürfen’s denn sein?

N+1: immer noch eins drauf
Das Gravelbike gilt vielen auch als Einstiegsdroge. Hat der Pendler erst die Freiheit gekostet, bei der Fahrt nach Hause den Abschneider durch den Wald zu probieren, suchen viele auch das Abenteuer abseits der Pendelstrecke. Sieht man die Kollegen auf Strava und Co., meldet sich auch schnell der Ehrgeiz und der Raceinstinkt erwacht. Zwar spart man sich mit dem Gravelbike den Renner, das MTB und das Stadtrad in der Garage, dafür muss man Platz schaffen für ein Gravelbike zum Pendeln, eines für die Ausfahrt am Wochenende und eines für gelegentliche Rennen. 

Es führt also nichts an der schweißtreibenden Frage vorbei: Wie viele Räder dürfen’s denn sein? „Wichtig bleibt immer: Man sollte sich über seine eigenen Bedürfnisse und Einsatzgebiete im Klaren sein. Da die Ansprüche an Gravelbikes in vielen Fällen sehr umfassend sind, sind viele Rider mit einem besonders vielfältig einsetzbaren Bike wie dem Diverge besonders gut beraten“, so der Specialized-Experte. Aber auch Merida bietet eine Allzwecklösung, die Platz in der Garage spart: „Das Silex ist ein erstklassiger Allrounder, der sich fürs Pendeln und Bikeabenteuer perfekt eignet. Dass das Silex zudem auch im Renneinsatz eine erstklassige Figur macht, hat es mit dem Sieg bei der UCI-Gravel-Weltmeisterschaft 2023 unter Beweis gestellt.“ 

Vielleicht wird mit dem Gravelbike sogar N+1 als ideale Menge an Bikes, die man sein Eigen nennt, irgendwann obsolet.