Ein Rennen, bei dem so lange gelaufen wird, bis nur noch einer übrig bleibt. Das verspricht eine ganz eigene Stimmung und sehr viel Spaß, wie der Selbstversuch beim „Heavy Metal Ultra“ in Estland beweist. 

Klaus Höfler

Ein Sommerabend. Ein Waldstück irgendwo im Nirgendwo Estlands. Eine Horde Menschen. Ein Rundkurs. Ein Lied. Und plötzlich rennen alle los, kommen zurück, warten. Und rennen wieder los. Immer wieder.  Um das hier zu verstehen, muss man sich aufmachen nach Bell Buckle, Tennessee. Ins Jahr 2012. Damals fand die Premiere eines neuartigen Laufveranstaltungsformats statt, das sich in der Trailrunningszene mittlerweile zu einem kleinen, aber feinen Trend rund um den Erdball ausgebreitet hat: die Backyard Ultras. Es gibt sie in den USA wie in Neuseeland, in Hongkong wie in ­Irland, in Deutschland wie in Dubai. Immer und überall derselbe Modus, „erfunden“ von Gary „Lazarus Lake“ Cantrell, einer Ultratrailrunning-Ikone aus den USA: Es geht nicht darum, wer am schnellsten läuft, sondern wer am längsten laufen kann.

„Last Man Standing“ also, ein Ausscheidungsrennen, bis nur noch einer überbleibt. Gestartet wird auf einem Rundkurs, der gemäß den offiziellen „Backyard Ultra“-Vorgaben 4,166 Meilen (6,704 Kilometer) lang sein muss. Für diese Runde hat jeder Läufer eine Stunde Zeit. Dann geht es in die nächste Runde. Je nach gelaufener Rundenzeit kann man in der verbleibenden Zeit bis zum nächsten Start rasten, essen, dehnen oder tun, was immer man tun möchte. Kommt man erst nach einer Stunde ins Ziel oder hört aus anderen Gründen auf, scheidet man aus. So lichtet sich das Teilnehmerfeld, bis am Ende nur noch ein Läufer übrig bleibt: der Sieger (auch er muss die letzte Runde aber noch binnen einer Stunde absolvieren). Alle anderen werden folgerichtig und unabhängig von der Anzahl der individuell gelaufenen Runden mit „DNF“ klassifiziert, haben sie doch die von der Gewinner-Leistung festgelegte Ziellinie nicht erreicht. Klingt hart und demotivierend, ist aber fair.

Startsong statt Startschuss
Die Rundenlänge ist so gewählt, dass sie nach 24 Stunden – also 24 Runden – ziemlich genau 100 Meilen, also 160 Kilometer ergibt. Dass das nicht zu hoch angesetzt ist, beweist die Bestenliste. Der bisherige Rekord, aufgestellt 2018, liegt bei 68 Runden (455,4 Kilometer) bei den Herren (Johan Steene) beziehungsweise 67 Runden (449,2 km) bei den Damen (Courtney Dauwater), wobei die US-Amerikanerin Maggie Guterl im vergangenen Jahr den Coup schaffte und erstmals die Gesamtwertung der„Backyard-Ultra“ Weltmeisterschaft (auch so etwas gibt es mittlerweile) gewinnen konnte. Last Woman Standing also. Das alles muss man wissen, um zu verstehen, was sich an diesem Sommerabend im August 2019 am „Terviserajad“, also Gesundheitspfad, in einem Waldstück in Keila, 76603 Harju maakond, Estland, abspielt. Olle Rouk, ein grundsympathischer, immer lächelnder estnischer Laufen­thusiast, hat hier die Premiere eines Wettkampfs nach dem Muster des amerikanischen Vorbilds organisiert und den Lauf „Heavy Metal Ultra“ getauft. Der Zusatz „Backyard Ultra“ fehlt, weil die Runde mit 6,6 Kilometern nicht exakt den Vorgaben der offiziellen Rennserie entspricht. Dafür bietet Rouk eine besondere Motivationsspritze für seine Rundenbolzerei: Als „Startschuss“ gibt es jede Stunde einen Heavy-Metal-Song zu hören. Die Starter haben dann exakt die Liedlänge Zeit, in eine weitere Runde zu starten. Kein Startschuss also, sondern eine Startmelodie, zu der man irgendwann zwischen erstem Ton und letztem Akkord losgerannt sein muss.

Mit der Anmeldung konnte man eine Playlist mit drei Lieblingsstücken aus der Rubrik „Schwermetall“ mitschicken, in der Hoffnung auch seinen Song einmal als Aufputschmittel zu hören. Den „Opener“ hatte sich Olle Rouk aber selbst reserviert – und er liegt auf der Hand: „Highway to Hell“ von AC/DC ertönt, als sich ein Rudel aus 79 Startern um 21 Uhr erstmals auf den Weg macht, darunter zu 80 Prozent Läuferinnen und Läufer aus dem skandinavischen Raum und eine Abordnung britischer Soldaten der hier stationierten Nato-Truppen. Und ein Österreicher: ich. „Du hast jetzt aber nicht gewonnen“, empfängt mich Olle Rouk nach der ersten Runde. Sein typisches Lachen ist kurzer Verwunderung gewichen. Knapp sechs Minuten vor dem zweiten Läufer passiere ich nach circa 35 Minuten das erste Mal die Ziellinie. Geplant ist das alles nicht, eher passiert. „Eine interessante Taktik, die du da hast“, kommentiert Olle das deckungsgleiche Ergebnis nach der zweiten Runde. Taktik? Habe ich keine. Auf ein „Bis zum bitteren Ende“-Rennen ist das hier für mich ohnehin nicht avisiert, eher auf einen auf rund zehn Runden angelegten, nächtlichen Selbstversuch im Ultra-Intervalltraining, während die Familie in Tallinn ihren Urlaubsschlaf genießt.

Last Man Running

So läuft es auf der ausgesteckten Strecke gemütlich dahin: den kurzen Anstieg hinauf, im engen Schlingerkurs durch ein kleines Waldstück, über einen Wiesenweg bis zum nächsten Baum-Slalom, dazwischen einen Feldweg entlang, am Ende noch Singeltrails und das letzte Stück über ein freies Feld Richtung Zielbogen. Immer und immer wieder. Eine permanente Wiederholung der Wiederholung. Ohne je auf die Uhr zu blicken laufe ich die ersten acht Runden alle auf die Minute gleich schnell, die Konkurrenz im Rückspiegel bleibt unsichtbar. Als ich in Runde neun ausgiebige Fotostopps einlege und erst nach 43 Minuten ankommen, fragt mich Olle grinsend, was denn los sei. Als ich mich bei Runde 10 wieder aufs Anfangstempo einpendle, höre ich von Olle ein aufmunterndes „Back on track!“ Ich beginne, seinen Humor zu lieben. Für das Rennen ist das alles freilich völlig unerheblich. Es geht hier nur bedingt um Geschwindigkeit. Eher um gute Regenerationsfähigkeit. Ganz sicher um starken Willen. Den braucht es vor allem, wenn die Lautsprecherdurchsage „Five minutes“ durch die Nacht bricht. 

Fünf Minuten später dröhnt der nächste Heavy Metal-Song und damit das Startintervall für die nächste Runde durchs Start-Zielgelände. Zunehmend hölzern und steif wirkende Läufer lösen sich wie Gespenster aus dem Dunkeln, kriechen aus ihren Zelten, klettern aus Auto-Kofferräumen und anderen behelfsmäßig aufgebauten Lagern, knipsen ihre Stirnlampen ein, machen kurze Mobilisierungsübungen. Die britische Nato-Battlegroup zerfällt indes langsam in ihre Bestandteile. Immer weniger der Soldaten schleppen sich an die Front und in eine nächste Runde. Nur der Mond ist Zeuge, als sich ein Mitläufer weit nach Mitternacht einen besonderen Scherz erlaubt. Angestrengt setzt er sich an die Spitze, versucht Abstand zu gewinnen. Bei Halbzeit der Runde weiß ich warum: Plötzlich springt er mit martialischem Gegröhle aus dem Gebüsch, eine Wolfsmaske über dem Gesicht. Mein Puls schnellt springflutartig in die Höhe. Er lacht. Wir klatschen ab. Hinter meinem Rücken werde ich bei dieser Runde noch einige Aufschreie erschreckter Läufer hören. Im Ziel ist nach dieser Runde für Gesprächsstoff gesorgt. Die Müdigkeit hat Pause – auch weil sich langsam der Morgen zurückmeldet. Der Sonnenaufgang gibt Extrakraft. So werden es am Ende statt der angepeilten zehn dreizehn Runden (86,671 Kilometer). Statt des versprochenen Frühstücks bringe ich ein Mittagessen zur wartenden Familie.

Last Man Running

 

 

 

 

 

 

Hannes Veide gewinnt den ersten „Heavy Metal Ultra“ in Estland mit 32 Runden (213,344 km) vor Reigo Lehtla (31 Runden) und Oliver Kalvi (30 Runden). Klaus Höfler wird 24. (13 Runden). Der nächste „Heavy Metal Ultra“ findet am 15. August 2020 in Keila statt. 
Mehr Infos: www.trailrun.ee