Der Schweizer Extremkletterer Dani Arnold hat für sein jüngstes Projekt die vertikale gegen eine horizontale Eisfläche getauscht. Am Baikalsee im eisigen Winter Sibiriens war er auf der Suche nach Neuland. „Es war noch nirgends so kalt.“

Klaus Höfler

Wir dachten“, erinnert sich Dani Arnold, „sie werden schon wissen, was sie tun.“ Irrtum. Am Abend gestanden die einheimischen Fahrer der Kleinbusse, dass sie selbst viel Angst, aber wenig Ahnung hatten, ob die Eisdecke tatsächlich halten würde. Sie hielt. Und so erreichte das Team rund um Extremkletterer Arnold nach einer mehrstündigen Fahrt quer über den bis zu 80 Kilometer breiten Baikalsee dessen Ostseite. Ohne exaktes Ziel, aber mit dem konkreten Wunsch, vereiste Felswände für ein paar neue Kletterrouten zu finden. Physikalisch im sibirischen Winter eher kein Problem: Auf bis zu minus 35 Grad plumpsen hier die Temperaturen. Geografisch aber eine Herausforderung.

Fehlende Orts- und Sprachkenntnisse, mangelhaftes Kartenmaterial, was Klettertouren angeht, und logistische Überraschungen ließen die Suche zum Abenteuer wachsen. Denn dass beim Luftkissenboot, mit dem der Trupp zunächst über das Eis flitzte, das Steuerruder brach, konnte niemand vorhersehen. Dass dem Hovercraft nach stundenlanger Fahrt später der Sprit ausging, war dagegen nur für den Kapitän des Boots eine Überraschung. „Wir haben dann zweieinhalb Stunden bei hereinbrechender Nacht und rapide sinkenden Temperaturen – weil kein Benzin bedeutet auch keine Heizung – mitten am größten See der Welt auf Hilfe warten müssen“, erzählt Arnold.

Eine völlig neue Erfahrung des Extremen
Selbst für Dani Arnold. „Es war noch nirgends so kalt wie in Sibirien. Selbst in Alaska oder im letzten Jahr am Gipfel des Broad Peak auf über 8000 Meter war es wärmer“, vergleicht er. Das machte das Klettern im siebten und achten Schwierigkeitsgrad – selbst wenn es nur relativ kurze Routen waren – nicht gerade einfacher. „Beim Klettern werden die Finger generell sehr schnell kalt, da es das Blut schwer hat bis zu den Händen hochzu­kommen. Eine gewisse Leidensbereitschaft ist schon nicht schlecht“, sagt Arnold. Noch dazu, wo er auf dicke Handschuhe zugunsten eines besseren Griffgefühls am Fels und mit dem Eispickel verzichtete.

Rein klettertechnisch blieb die Relevanz der Expedition überschaubar, gibt Dani Arnold zu: „Da muss man schon ehrlich sein. Wenn man die ganze Reise, die Menschen, die Kultur und dass wir die Ersten waren, miteinbezieht, hat es sich zu hundert Prozent gelohnt. Aber wenn jemand einfach Eisklettern möchte, dann muss man eigentlich nicht aus Europa weg.“ Hier, vor allem in den berühmten Nordwänden der Alpen, hat sich der Schweizer mit ganz anderen Glanztaten in den Geschichtsbüchern verewigt: In 2:28 Stunden durch die Eiger-Nordwand, in 1:46 Stunden durch die Matterhorn-Nordwand, in 2:05 auf die Grandes Jorasses, in 46:05 Minuten auf die Große Zinne – immer alles Free Solo, also ohne Seilsicherung, dafür mit maximalem Speed.

„Klar möchte ich als ehrgeiziger Athlet neue und schwierige Kletterrouten machen. Diese schwierigen Projekte kosten aber vor allem mental viel Energie, sodass ich den Fokus bei anderen Projekten bewusst etwas anders setzen muss“, skizziert der frischgebackene Familienvater seine Herangehensweise. Denn abseits vom Klettern mit höchster Geschwindigkeit in höchster Schwierigkeit war da immer der Drang, etwas Neues zu entdecken, sagt Arnold.  „Früher haben mich die klassischen Bergsteigerorte wie Patagonien, Nepal und Alaska motiviert. Heute faszinieren mich nicht mehr nur die Berge, sondern auch das Land, in denen sie stehen, sowie die Menschen und deren Kultur“, so der Alpinist.

Mitten in Sibirien, am mit 25 Millionen Jahren ältesten und mit 1600 Metern tiefsten See der Erde, fand er, was er suchte: Was Eisklettern angeht, ist der Baikalsee – obwohl so groß wie Belgien – gänzliches Neuland. Eine terra incognita im fast ewigen Eis. Zwischen November und März machen Durchschnittstemperaturen von minus 20 Grad die Gegend zu einer lebensfeindlichen Tiefkühltruhe der Natur. Dazu kommt das ständige Krachen, Knacken und Knallen des Eises. Und das alles in einer atemberaubenden Kulisse: Rund um einen Ausblicke in die ewige Winterweite Sibiriens nördlich der mongolischen Grenze, unter einem Einblicke durch die rund 25 Zentimeter dicke, vollkommen klare Eisdecke in die tiefschwarze Tiefe des Sees.

Steile Bergflanken sind hier aber Mangelware
Das kletterbare Terrain beschränkt sich auf Eisbuchten, in die das Wasser im Sommer reinfließt und im Winter zu bizarren Eishöhlen friert, auf relativ kurze Felswände vor allem auf den Klippen der Olkohn Island, über die sich das Eis aufgrund der immensen Kälte als extrem harter, glasiger Überzug legt, der schnell splittert. „Da braucht es viel Energie, um den Pickel tief genug ins Eis zu bekommen“, erklärt der Profikletterer. Auch das Eindrehen einer Eisschraube in dieses pickelharte Eis war „noch nirgends auf der Welt schwieriger“. 

Und die erstbestiegenen Routen selbst: Haben sie Namen bekommen? „Nein, irgendwie war klar, dass wir ihnen keine Namen geben“, sagt Arnold. „Es war so cool, dass wir die Routen geklettert sind, dann das ganze Material wieder mitgenommen haben und jetzt die Routen wieder genau so sind wie davor. Ich finde, es muss nicht immer alles einen ­Namen und eine Nummer haben.“