Punk Climber trifft Urgestein: Für das Salewa Projekt „The NXT Step“ bestiegen Luca Andreozzi und Hanspeter Eisendle die historische Piaz Route an den Vajolet Türmen. Zwei Gespräche – über Facetten des Kletterns.
Luca, du warst von 2000 bis 2009 siebzehnmal italienischer Jugendmeister im Lead und Bouldern. Wie schafft man sowas?
Man muss sagen, dass es zu dieser Zeit nur wenige Kinder und Jugendliche gab, die regelmäßig klettern konnten, so wie das heute möglich ist. Bei uns in Italien gab es kaum Kletterhallen. Deshalb hatte ich wenig Konkurrenz.
Wo bist du geklettert?
Seitdem ich fünf bin, klettere ich draußen am Fels.
Hat dir das Wettkampfleben als Kind Spaß gemacht?
Absolut! Es war ein wichtiger Teil meines Pfads als Kletterer. Ich war viel unterwegs, habe neue Orte und neue Menschen kennengelernt, mich auf verschiedene Umgebungen eingestellt. Das hat mich sicher geprägt.
Mit 18 Jahren trafst du eine erstaunliche Entscheidung: keine Wettkämpfe mehr. Hatten dir deine Eltern nicht erlaubt, früher aufzuhören?
Haha … im Gegenteil! Meine Eltern haben mir viele Freiheiten gelassen und mich zu nichts gedrängt.
Warum hört man als Toptalent auf, wenn man volljährig wird und einem die große Sportwelt offensteht?
Die Wettkämpfe waren anstrengend. Nach all diesen Jahren hatte ich keinen Spaß mehr. Ich habe zwar dauernd gewonnen. Aber ich habe das Klettern nicht mehr so genossen, wie ich es gerne getan hätte. Die ständigen Siege übten Druck auf mich aus, weil ich Angst hatte, mein Umfeld zu enttäuschen.
Gab es einen Moment, in dem dir klar wurde, dass es vorbei sein sollte?
Ich kann mich an einen Wettkampf erinnern, den ich nicht gewann. Ich hatte mein Bestes gegeben, war zufrieden mit mir, aber die Leute waren es nicht. Da wurde mir klar, dass ich nicht mehr mein Spiel spielte … sondern das Spiel von anderen.
Und dann?
Es fühlte sich kalt an. Plötzlich hatte ich beim Klettern das Gefühl, dass ich Zeit verliere. Ich investierte viel Energie ins Klettern, bekam sie aber nicht mehr zurück. Deshalb musste und wollte ich mich neu orientieren. Ich wusste genau, dass ich mich dort draußen besser würde ausdrücken und verwirklichen können.
Gefällt es dir, dass man dich als „Punk Climber“ bezeichnet?
Ich habe nichts dagegen! Ich mag Punk Rock. Und Klettern hatte immer etwas Rebellisches. Meinetwegen auch Punk. Nicht immer den bestehenden Regeln zu folgen, sondern etwas Neues zu versuchen. Früher waren es Pioniere, die unbekannte Orte erkundeten. Sportklettern entstand als Reaktion zum Alpinismus. Bouldern wiederum war eine Reaktion auf das Sportklettern. Ich bin aber nicht der Erste, der sich die Haare blond gefärbt hat. Und ich mache nichts revolutionär Neues. Im Gegenteil: Ich tue, was Kletterer wie Ben Moon oder Chris Sharma schon lange vorher getan haben … ganz normale Dinge.
Nämlich?
Sich von Felsen und Formationen inspirieren lassen. Dem Instinkt folgen. Nach Freiheit suchen und neue Orte zum Klettern entdecken.
Warum machen das immer weniger Kletterer?
Es gibt so viele Infos, Videos mit Routen und Plänen. Viele sind geradezu besessen von einem Schwierigkeitsgrad. Da denke ich mir: ‚Hey, schließ doch mal das Buch, leg das Handy weg und öffne die Augen!‘ Du gehst weiter, läufst den Fluss hinab, suchst dir einen Spot, der dich packt. Klettern ist Technik, und das ist spannend und schön. Klettern ist aber auch das Berühren des Unbekannten.
Was fühlst du am Fels: eine Oberfläche aus Stein oder ist da mehr?
Manchmal spricht mich der Shape eines Felsens an. Oder auch nur seine Farbe. Für mich ist der Fels wie ein Spiegel meiner selbst. Er reflektiert meine Ängste und Wünsche. Manchmal fühle ich mich bereit, aber der Fels ist es nicht. An einem anderen Tag bezweifle ich, bereit zu sein … aber der Fels entscheidet, mich hochzulassen. Als hätte er eine Seele. Das hat etwas Magisches und ist wohl der Grund, warum ich nicht aufhören kann zu klettern.
Für mich ist der Fels wie der Spiegel meiner selbst. Er reflektiert meine Ängste und Wünsche.
Beim Klettern geht es darum Halt zu finden. Hast du noch einen ganz besonderen Griff in deiner Erinnerung?
Manchmal bin ich so fokussiert, dass ich es erst später realisiere, weil ich so im Flow bin. Ich erinnere mich an Rainbow Rocket in Fontainebleu. Du musst im Sprung die Kante erwischen. Ich hatte es schon einige Male versucht, wollte es das letzte Mal versuchen, war schon darauf vorbereitet, auf der Matte zu landen … und plötzlich spürte ich den Griff in der Hand. Das war eine Explosion an Adrenalin und Emotion, ich kann das Gefühl noch heute spüren.
Du betreibst in Florenz eine eigene Kletterhalle. Wie baust du dort deine Routen?
Es ist ein Mix aus verschiedenen Faktoren. In der Halle soll es bestimmte Schwierigkeitsgrade geben, die verschiedene Bewegungen und Abläufe beinhalten. Hinzu kommt aber immer die Inspiration aus der Natur. Jede Bewegung in meiner Halle ist von draußen inspiriert. Wenn mich Leute nach Lösungen fragen, sage ich ihnen: Ich kann es dir sagen. Aber du kannst es auch selbst versuchen. Oder sogar eine neue Lösung finden?
Du bist auch ein leidenschaftlicher Skateboarder. Haben die beiden Sportarten etwas gemeinsam?
Generell sind es zwei verschiedene Welten. Aber die Art, wie ich das Klettern und das Skaten erlebe, sind für mich gleich. Bei beiden geht es um Kreativität. Ob ich als erster einen Highball klettere oder eine Treppe oder ein Geländer mit dem Skateboard interpretiere: Es geht darum, den Dingen einen neuen Sinn zu geben und etwas zu tun, von dem man nicht wusste, ob es möglich ist.
Mit Altmeister Hanspeter Eisendle hast du dich kürzlich für ein Filmprojekt in die rohe Bergwelt gewagt. Wie hast du das erlebt?
Es war ein großes Glück! Ich hatte nach neuer Inspiration gesucht, wollte etwas Fremdes fühlen. Wir mussten mit Eis und Schnee zurechtkommen und auf das Wetter achten. Als wir auf dem Vajolet standen, wollte ich das feiern. Hans sagte nur: ‚Runter hier, da kommt ein Sturm …‘
Und?
Er hatte natürlich Recht. Als wir aus der Wand stiegen, standen wir in Schnee und Nebel.
Was hast du von der Tour für dich mitgenommen?
Dass ich mehr von dieser abenteuerlichen Seite der Berge erleben möchte. Und dass ich mir die Leidenschaft für das Klettern erhalten möchte, wie ich sie bei Hans wahrgenommen habe. In seiner Gegenwart habe ich gespürt, wie sehr man mit sich im Reinen sein kann, wenn man seinen Weg und seine innere Balance gefunden hat.
Wohin wird sich das Klettern entwickeln?
Ich denke, dass Sportklettern und Outdoor derzeit weit voneinander entfernt sind. In den Kletterhallen werden kaum noch klassische Griffe gesetzt, wie man sie am Fels findet. Gleichzeitig muss ein guter Indoor-Climber kein guter Outdoor-Kletterer sein. Klettern ist sehr athletisch, Outdoor steht für das Abenteuer. Ich könnte mir vorstellen, dass sich beide Welten in den kommenden Jahren wieder näherkommen.
Hanspeter, wie geht es dir?
Ich denke, ganz gut! Ehrlich gesagt bin ich so beschäftigt, dass ich nie die Zeit habe, darüber nachzudenken, wie es mir geht.
Womit bist du beschäftigt?
Ich switche zwischen Führungen und eigenen Klettertouren. Wenn es das Wetter zulässt, bin ich draußen in den Bergen. Demnächst reise ich nach Bosnien, in die Nähe von Sarajevo, wo man im Hinterland noch ganz alleine klettern kann. Ungefähr so wie vor 60 oder 70 Jahren in den Dolomiten. Ich war auf dem Balkan schon mit Tourenski unterwegs. Jetzt möchte ich mir das mal in der wärmeren Jahreszeit ansehen.
Suchst du nach Ruhe?
Im Frühling gibt es hier bei uns die einschlägigen Klettergebiete, in denen alle relevanten Informationen schon vorhanden sind. Wo man die ganze Szene trifft. Ich habe nichts dagegen, aber manchmal finde ich es feiner, wenn man niemand trifft.
Du hast im Rahmen eines Projekts für Salewa mit dem italienischen Boulder-Spezialisten Luca Andreozzi in einer Seilschaft die Vajolet-Türme bestiegen. Wie oft warst du da schon oben?
Schon einige Male.
Eher zehn oder eher fünfzig Mal?
Eher fünfzig … aber mit den Zahlen habe ich es nicht so. Viele Bergsteiger wissen, wie viele 4000er oder 5000er sie bestiegen haben. Das weiß ich nicht. Dafür habe ich viele Bilder und Erinnerungen sehr genau im Kopf.
Warum habt ihr euch für die Vajolet-Türme entschieden?
Es ging weniger um das Bergsteigen selbst, als darum, das Bergsteigen darzustellen. Der Schwierigkeitsgrad war nicht so wichtig, wir hätten auch beide den doppelten Grad klettern können. Die Idee war, Luca als urbanen Kletterer mit den rauen Bedingungen des Gebirges zu konfrontieren.
Wie hat er sich geschlagen?
Mich hat fasziniert, wie gut er die Bedingungen angenommen hat. Er war neugierig. Er hat weniger versucht, sein Kletterkönnen in die Dolomitenfelsen übertragen, als vielmehr die allmähliche Annäherung an den Berg zu erleben.
Wie seid ihr dem Berg nähergekommen?
Ins Gebirge geht man Schritt für Schritt. Man könnte sagen, das ist sehr unmodern. Modern wäre, möglichst schnell möglichst viel in kurzer Zeit zu erleben. Wir hatten schon beim Zustieg Schnee am Boden, und Luca ist eher kein Schneemensch. Es war windig, wir hatten kalte Finger, außerdem musst du im Gebirge prüfen, ob die Griffe fest sind. Luca hat das nicht gestört, er war fasziniert davon.
Wie hast du ihn angeleitet?
Meine Erfahrung ist, dass Lernen am besten in kleinen Schritten funktioniert. Wenn ich ihm alles vorher aufgezählt hätte, wäre das gar nicht aufzunehmen gewesen. Stattdessen sagte ich ihm, dass wir da oben nach links gehen, wo wir kurz sehr exponiert sein werden. Dann werden mal zwei Meter brüchig, also besonders auf die Griffe aufpassen. Immer schön Schritt für Schritt. So kann man Hinweise exakt aufnehmen und hat nicht so ein Gewusel im Kopf. Mit Widerständen in kleinen homöopathischen Dosen kann der Mensch leichter umgehen.
Gab es Schlüsselstellen beim Aufstieg?
Vom reinen Klettern her war Luca natürlich massiv unterfordert. Aber die großen Hakenabstände waren neu für ihn. Und ein überhängender Abgrund von 600 Metern … das ist ein Eindruck, der mehr auf einen Menschen wirkt, als jeder sportliche Schwierigkeitsgrad.
Luca meinte, er wollte oben auf dem Turm erst einmal die Aussicht feiern. Du hast ihn aber zur Eile ermahnt, weil ein Sturm aufziehen würde.
Ja, der war auch nicht zu übersehen. Als wir unten aus der Wand stiegen, standen wir bereits im Nebel. Wir mussten noch zur Hütte aufsteigen, in der wir die Nacht verbrachten. Es ging durch Wind und Schnee mit null Sicht.
Was hast du von der Tour für dich mitgenommen?
Ich kannte Luca nur vom Telefon. Mich hat begeistert wie er als junger Mensch aus der Stadt das Bergdenken angenommen hat. Er wollte sein urbanes Verhalten nicht ins Gebirge übertragen, sondern diese neue Dimension, den wilden Teil der Welt erleben.
Was einen dort erwartet, ist die Exponiertheit. Kannst du uns diesen Begriff noch einmal aus deiner Sicht nahebringen?
Exponiert zu sein bedeutet, den Einflüssen der Natur ausgesetzt zu sein. Ich glaube, dass es die wichtigste Erfahrung ist, die wir als Menschen im Gebirge machen können. Klettern können Affen oder Eidechsen sowieso besser als wir. Der Mehrwert der Gebirge liegt darin, dass wir dort als zivilisierte Menschen die Möglichkeit haben, einer Art Urwelt zu begegnen, uns dem Wind und dem Schnee und dem Regen auszusetzen. Die Welt, wie sie immer war, gibt es auch noch. Das wird heute bis in die Politik hinein vergessen … dass wir uns der Natur anpassen sollten, weil wir sie niemals beherrschen werden.
Im Gebirge begegnen wir als zivilisierte Menschen einer Art Urwelt, setzen uns Wind und Wetter aus.
Was denkst du, wenn du von oben auf die Welt blickst?
Ich bin in erster Linie fokussiert. Für mich ist es die beste Möglichkeit, im Hier und Jetzt zu leben. Der Moment ist die einzige Zeit, in der wir tatsächlich leben. Was war, haben wir in Erinnerung. Was kommt, das ahnen wir. Aber wissen können wir es nicht. Die Wirklichkeit ist, dass wir genau hier – in diesem Moment – am Leben sind. Und das ist nirgendwo einfacher spüren, als in der Exposition. Wenn du dich der Natur aussetzt, musst du in dieser Sekunde und jeder Minute das Richtige tun. Alles andere wird in den Hintergrund gedrängt. Mir hat gefallen, dass ein junger Mensch wie Luca das genauso empfunden hat, wie ich. Dass wir wenig reden mussten, weil wir beide die gleichen Eindrücke teilten.
Was ist der eine Tipp, den du jedem jungen Menschen geben würdest?
Akzeptiere, was geschieht. Und ziehe dich zurück, wenn es dir zu viel wird. Das Mediale will uns weißmachen, dass das Bergsteigen immer ein Genuss ist. Dass man unbedingt die Hotspots sehen muss. Wenn man ehrlich ist, sind die Berge für uns Menschen aber in erster Linie ein Widerstand, an dem wir wachsen, wenn wir ihm begegnen. Wir wachsen, wenn wir uns zurückziehen. Und wir wachsen, wenn wir unser Ziel erreichen. Nicht die Ästhetik ist das Entscheidende, sondern der erlebte Widerstand durch die Natur.
Luca meinte, er habe gespürt, wie sehr du mit dir im Reinen bist. Kannst du das nachvollziehen?
Ich bin kein Lehrmeister. Jeder Mensch ist sehr individuell und muss für sich seine Gelassenheit finden. Aber es ist schon eine gute Methode, wenn man sich der Wirklichkeit aussetzt, um zu spüren, wer man wirklich ist. Wenn jede Show wegfällt. Das Bergsteigen lebt vom Weglassen. Man kann nicht alles ins Gebirge mitnehmen, was man vielleicht gebrauchen könnte, weil man es nicht tragen kann. Hat man wenig, muss man mit wenig auskommen. Das Erlebnis ist größer, wenn man kein Schneckenhaus auf dem Rücken trägt.
Sollte der Klettersport wieder langsamer und einfacher werden?
Das Wesen des Bergsteigens ist das Langsame. Tausend Meter zu Fuß sind nicht einmal ein richtiger Spaziergang. Tausend Meter zu klettern, dauert einen Tag. In den Bergen ist man automatisch langsam. Und die Gefühle gehen in die Tiefe.
Hat der Bergsport eine negative Entwicklung genommen?
Wir sollten uns Gedanken machen, ob wir die Natur den urbanen Bedürfnissen anpassen wollen, oder ob wir akzeptieren, dass die Welt einen wilden Teil hat, in dem wir versuchen, unser erlerntes Können umzusetzen. Das ist für mich der zentrale Punkt. Am Mount Everest wird die urbane Denke ins Gebirge übertragen. Alles absichern, alles anpassen und mit dem Hubschrauber ins Basislager fliegen. Das halte ich für keine gute Entwicklung. Was ich gut finde, ist, dass junge Menschen an einem sicheren Ort wie in einer Kletterhalle die Technik erlernen können, um sich dann ins Gebirge zu begeben.
Wo bist du am Ende lieber: oben am Berg oder unten im Tal?
Das klingt ja fast nach einer Fangfrage! Ich wohne lieber bei den Menschen, ich bin gerne mit meinen Freunden in meiner Gemeinde unterwegs. Das ist mein natürliches Habitat. Um das wirklich schätzen zu können, muss ich meine Nase allerdings immer wieder weit in den Wind halten.
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