Es herrscht Lawinenwarnstufe 1 bis 2, das Wetter passt und die Sicherheitsausrüstung ist vollständig. Kann man nun nach Herzenslust Tiefschneehänge ­begehen und befahren? Leider nein: Eine Gefahreneinschätzung muss immer am ­Einzelhang erfolgen.

Christof Domenig
Christof Domenig

Unter Freizeitsportlern gibt es oft ein Missverständnis. Da wird auf die Lawinenwarnstufe geschaut, und wenn diese eine „geringe“ oder „mäßige“ Gefahr (Stufe 1 und 2) signalisiert, wird bedenkenlos drauflosgegangen und -gefahren. „Die Beurteilung, ob ich in einem Hang aufsteige oder ihn befahre, muss jedoch in der Natur und an jedem Hang gesondert erfolgen“, erläutert Bergführer Marcellus Schreilechner. „Einzelhangbeurteilung“ heißt das fachsprachlich.

Nicht falsch verstehen: Tourenplanung und das genaue Studium des Lawinenlageberichts sind unverzichtbar und die Basis jeder sicheren Skitour, Schneeschuhtour und jedes Freeridetages. Doch ob eine Situation gefährlich ist oder nicht, muss auch in der Natur festgestellt werden. Schreilechner erklärt: „Der Lawinenlagebericht liefert eine Orientierung zur Lawine­n­situation in einer ganzen Region, die zumindest 100 km2 Größe umfasst. Er liefert eine generelle Situationsbeschreibung, die auf Auslösewahrscheinlichkeiten abzielt. Bei der Einzelhangbeurteilung geht es aber nicht um Wahrscheinlichkeiten, sondern man will eine klare Ja/Nein-Entscheidung treffen.“

Lebenslang lernen
Aufsteigen oder nicht, in den Hang einfahren oder ihn umfahren. Wie funktioniert die Einzelhangentscheidung konkret, und worauf stützt sie sich? „Ein verlässliches Rezept zur Beurteilung eines Einzelhangs gibt es derzeit nicht, weil viele Faktoren eine Lawinenauslösung beeinflussen“, räumt Schreilechner ein. „Es geht dabei immer um eine ganzheitliche Betrachtung der Lawinensituation.“ Die Faktoren, die wir euch im Folgenden mit dem Experten gemeinsam näherbringen, fließen allesamt in die Beurteilung mit ein. Wie der Bergführer auch erklärt, gibt es übrigens weniger typische Lawinenhänge als typische Lawinenzeiten: „Die ersten ein bis drei Tage nach Niederschlägen oder Wind sowie nach raschen Temperaturänderungen sind besonders gefährlich. Wer diese Tage meidet oder zumindest sehr defensiv unterwegs ist, zum Beispiel die 30- Grad-Grenze nicht überschreitet, kann einen Großteil der Lawinenunfälle schon vermeiden.“

Um die Einzelhangbeurteilung kommt man natürlich dennoch nicht herum. Die hier dargestellten Faktoren dafür können natürlich nicht mehr als einen ersten Eindruck geben. Doch „risikobewusstes“, eigenverantwortliches Skitourengehen lernt man auch nicht aus einem Artikel, auch nicht in einem Wochenkurs und nicht einmal innerhalb einer Wintersaison. Wie schon so oft eingemahnt: Eine lawinenkundliche Ausbildung sollte für jeden Geländeneuling der Einstieg sein und dann geht es ans „lebenslange Weiterlernen“. „Es braucht theoretische Kenntnisse, praktische Fertigkeiten und mehrere Winter aktive Erfahrung.“ An eins erinnert der Bergführer noch: „Bei Unsicherheiten ist nur der Verzicht auf den Hang die sichere Variante.“

Faktoren zur Einzelhangbeurteilung

Lawinenlagebericht

Er ist eine wesentliche Basis, um die Gefährlichkeit eines Hanges konkret einschätzen zu können: „Der Lagebericht gibt eine generelle Information, in welchem Tourengebiet günstige Verhältnisse – Gefahrenstufen 1 und 2 – oder ungünstige – Gefahrenstufen 3 und 4 – herrschen. Und er verrät auch, wo im Speziellen die Gefahrenstellen liegen. Er gibt exzellente Informationen für die Tourenplanung und erste Hinweise darauf, was ich während der Tour zu erwarten habe“, fasst Experte Schreilechner zusammen.

Durch den Hinweis auf aktuelle Lawinenprobleme – Neuschnee, Triebschnee, Altschnee, Nassschnee, Gleitschnee – könne man bereits im Vorfeld bestimmte Einzelhänge als Schlüsselstellen in seiner Tourenplanung herausarbeiten, die dann während der Tour mit besonderer Aufmerksamkeit beurteilt werden müssen.

Gelände

Beim Skitourengelände sind die Neigung, die Himmelsrichtung (Exposition), die Höhenlage, die Geländeform und Geländefallen zur Einzelhangbeurteilung heranzuziehen. „Die Hangneigung kann man aus der Karte abschätzen und im Gelände messen bzw. auch schätzen. Hier weiß man, dass es unter 30 Grad nahezu keine Schneebrettauslösungen gibt, wobei man aber auf den Auslauf von Lawinen in den flacheren Bereich achten muss. Bei Nassschneelawinen gibt es jedoch keine definierte Untergrenze“, legt Schreilechner dar.

Die Exposition eines Hanges, also die Ausrichtung nach der Himmelsrichtung, ist insofern von Interesse, als Sonneneinstrahlung und Windeinwirkung wesentliche Faktoren sind, die Lawinen bedingen können. Expertentipp: „Besonders bei Triebschneeproblemen ist auf die Himmelsrichtung zu achten.“

In den verschiedenen Höhenstufen herrschen oft unterschiedliche Temperaturen, die positiv (etwa durch Setzungen der Schneedecke) oder auch negativ (beispielsweise wenn es auf die Schneedecke regnet) wirken können. Verschiedene Geländeformen wie Rinnen, Rücken, Plateaus, felsdurchsetztes Gelände und große freie Hänge fließen ebenfalls in die Einzelhangbeurteilung ein. Für die Einzelhangbeurteilung gehört letztlich auch das Erkennen von Geländefallen dazu. Das können etwa Gräben im Auslaufbereich von Hängen, Felsabbrüche, Gletscherspalten oder flache Böden am Fuß von Steilhängen sein.

Schneedeckenaufbau

Der Schneedeckenaufbau ist die Grundlage für die Lawinenbildung. „Für den Abgang eines Schneebretts braucht es gebundenen Schnee und darunter eine Schwachschicht. Ausgelöst werden Lawinen dann durch eine Zusatzbelastung“, sagt Schreilechner. Aber auch von flacheren Hängen und sogar Talböden aus können Schneebretter in benachbarten Steilhängen ausgelöst werden, indem sich ein Bruch fortsetzt („Fernauslösung“).

Der Aufbau der Schneedecke wird durch den Witterungsverlauf der vorangegangenen Tage und teilweise auch Wochen geprägt. Generelle Informationen findet man im Lawinenlagebericht, die bei entsprechender Kenntnis durch Eigenbeobachtungen – konkret das Graben eines Schneeprofils und Schneedeckenuntersuchung – ergänzt werden können.

Wetter

Neben dem Witterungsverlauf der vorangegangenen Tage (siehe „Schneedeckenaufbau“) ist auch das Wetter während der Tour entscheidend. Einerseits deshalb, weil man den Einzelhang, mögliche Geländefallen usw. möglichst gut sehen sollte, um die Lage beurteilen zu können.

Drohen Nassschneelawinen, ist andererseits der Temperaturverlauf über den Tag hinweg ein wesentlicher Faktor. Besonders bei Frühjahrsverhältnissen mit zunehmender Sonneneinstrahlung und Tageserwärmung ist Vorsicht geboten, mahnt Marcellus Schreilechner. Es gilt: „Zeitig aufbrechen und Touren früh ­beenden“.

Windzeichen„Der Wind ist der Baumeister der Lawinen“ – der alte Lehrsatz, der dem Lawinenforscher Wilhelm Paulcke (1873–1949) zugeschrieben wird, gilt unverändert. „Erkennen von Windzeichen heißt vor allem, zu erkennen, wo der Wind den Schnee hingetrieben hat, und ist unumgänglich für die Einzelhangbeurteilung“, erklärt der Experte. Zu den klassischen Windzeichen gehören z. B. Wechten, Windgangerl, Schneefahnen oder Schneedünen.
OrientierungsfähigkeitGute Orientierungsfähigkeiten sind auch ein wesentlicher Bestandteil, um sich risikobewusst im Gelände bewegen zu können. Marcellus Schreilechner: „Sowohl in der Planung als auch während einer Tour ist man laufend mit Orientierungsaufgaben konfrontiert, die speziell im Winter dazu dienen, durch geschicktes Ausnützen des Geländes Risikobereiche zu minimieren oder das Risiko im Idealfall ganz auszuschalten.“
Dr. Marcellus Schreilechner
Dr. Marcellus Schreilechner

ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, Alpinsachverständiger und Bundesreferent für Bergsport bei den Naturfreunden Österreich.

Naturfreunde

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