Zwischen Schatten­dasein und Olympia. Warum das Gehen eine vollwertige sportliche Alternative ist, eine Community mit Familienanschluss bietet und einen Hobbygeher aus Begeisterung gleich zum Veranstalter macht. 

Christoph Heigl
Christoph Heigl
Geh gschei´t: Ulf Tomaschek zwischen Schatten­dasein und Olympia

Man kann es übertreiben, muss aber nicht. Der erste überlieferte Wettkampf im Gehen fand 1682 in London statt und dauerte fünf Stunden. 339 Jahre später geht man es gemütlicher an. In Laufratgebern und von unseren SPORTaktiv-Laufexperten hört und liest man es immer wieder: Speziell Laufanfängern wird Gehen unbedingt empfohlen, wenn die Voraussetzungen, der Fitnessgrad und vielleicht das Idealgewicht für erste Laufeinheiten noch nicht ganz erreicht sind. Wenn die ersten Einheiten „nur“ aus Gehen bestehen, bleiben Puls und Frustschwelle tiefer unten, als wenn man gleich Vollgas wegrennt. Man kann aber auch dauerhaft beim Gehen bleiben, denn die Sportart ist eine vollwertige Leichtathletikdisziplin und immerhin seit 90 Jahren (!) olympisch.

Im Spitzensport ist Olympia wohl der beste Anknüpfungspunkt. Man kennt die TV-Bilder von der eigentümlichen Gehtechnik mit den hin- und herschaukelnden Athleten. Dass ihr Gehtempo selbst gut trainierte Hobbyläufer niemals erreichen, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Hand aufs Herz: Wer läuft 10 Kilometer in 37 Minuten (Geher-Weltrekord)? Oder 20 Kilometer in 1:16 Stunden (ebenfalls Bestmarke)?

Ab und zu sind die Geher in den Schlagzeilen, weil wegen der durchaus knifflig zu bewertenden Technik (siehe Infobox) immer wieder über Disqualifikationen diskutiert wird. Dabei erwischt es auch die Besten der Welt: Robert Korzeniowski ist dreifacher Olympiasieger über die 50 Kilometer, der längsten Leichtathletikdisziplin. Bei Olympia 1992 war der Pole bereits auf der Schlussrunde vor dem Stadion in Barcelona, als er auf Platz zwei liegend nach einem Regelverstoß noch aus dem Rennen genommen wurde.   

In Österreich fristet das Gehen aber trotz Olympiastatus und normaler Zugehörigkeit zum Verband eher ein Schattendasein und wird mehr als Breitensport denn als Spitzensport gelebt. Als solchen erlebt ihn auch Ulf Tomaschek mit allen seinen Vorzügen. „Vor allem in Ostösterreich ist das eine große Familie und eine super Community“, sagt der steirische Hobby­geher. „Jeder kennt jeden und jeder hilft jedem. Dieses Flair ist ein wichtiger Aspekt für die meisten und auch für mich ein ganz wesentlicher Punkt.“

Ja, die Unkenrufe, es sei eine Sportart für die Älteren, Dickeren und Lädierteren, kennt Tomaschek auch – und zum Teil sind sie ja auch gar nicht so falsch, lacht er – aber die Szene werde dadurch umso bunter und sympathischer. „Man ist nicht auf Events, Siege und Rekorde aus. Gehen ist in Österreich de facto ein Masterssport“, erzählt der 61-Jährige, „in der allgemeinen Klasse unter 35 Jahren gibt es kaum Athleten.“ Umso mehr blüht der Hobbybereich und der Fitnessaspekt unter jenen, die gemeinsames Sporteln und das Miteinander über Konkurrenzdenken und übertriebenen Ehrgeiz stellen.

Geh gschei´t: Ulf Tomaschek zwischen Schatten­dasein und Olympia

Kurioserweise kam Tomaschek, im Brotberuf Tageszeitungsjournalist („Kleine Zeitung“), bereits 1976 als Jugendlicher und über Vermittlung seines damaligen Leichtathletiktrainers zum Gehen. „Das war beim Lauftraining mehr aus einer Blödelei heraus. ,Du kannst das ­sicher‘, hat mein Trainer gesagt und schon war ich bei der steirischen Jugendmeisterschaft in Graz-Liebenau.“ Damals gab es in Österreich schon eine lebhafte Szene, doch für den Steirer blieb es trotz beachtlicher Leistung von 29 Minuten für 5000 Meter bei diesem einmaligen Kontakt. Bis zum Jahr 2016.

Der mittlerweile laut Eigendefinition nur noch „Gelegenheitsläufer“ und Bergwanderer musste sich nach einer Knie-OP und Bänderverletzungen im Sprunggelenk eingestehen: „Mit dem Laufen ist es aus.“ Doch in seiner Heimatstadt Bruck stand der traditionelle Businesslauf auf dem Plan und Tomaschek verkündete den Firmenkollegen: „Ich mach mit. Aber ich laufe nicht, ich gehe.“ Da konnte er sich zwar einiges an Häme und Witzchen anhören, doch seine 32 Minuten für 4,6 Kilometer („Ich habe viele Läufer überholt.“) führten ihn über kurz oder lang zum sehr breitensportaffinen ATUS Bruck. 2017 reifte der Gedanke, sportliches Gehen wieder richtig als Sportart auszuüben.

Beim ersten Bewerb war ich richtig nervös, obwohl ich niemanden kannte. Aber ich wurde super aufgenommen und hab von allen Seiten Tipps bekommen, auch von den Wettkampfrichtern.

Ulf Tomaschek

„Beim ersten Bewerb war ich richtig nervös, obwohl ich niemanden kannte. Aber ich wurde super aufgenommen und hab von allen Seiten Tipps bekommen, auch von den Wettkampfrichtern.“ Wenn man sich gegenseitig an eine saubere Technik erinnert, heißt es übrigens freundlich: „Geh g’scheit.“ Mittlerweile ist Tomaschek nicht nur erfolgreicher Teilnehmer an diversen Cups, sondern hat in Bruck gleich selbst einen Geherbewerb als Veranstalter durchgeführt. „Es macht einfach Spaß, weil es so viele Gleichgesinnte gibt.“

In den Zeiten der Ausgangsbeschränkungen haben das (Spazieren-)Gehen viele Österreicher als „Sportart“ wiederentdeckt. Frischer Wind für den Sport? Der Weg aus dem Schattendasein? Da muss Geher-Staatsmeister Roman Brezezowsky schon schmunzeln. „Spazierengehen hat mit unserem Gehen wenig zu tun“, sagt er im Interview auf www.bundessportmagazin.at. Aber auch er hofft, dass der Neustart nach der Krise die Chance bietet, mehr junge Menschen zum Gehersport zu bringen und eine Auffrischung in der Szene zu bewirken.

Die Voraussetzungen sind minimal. Normales Laufgewand, normale Laufschuhe, los geht es. Die speziellen Geherschuhe, die es vereinzelt am Markt gibt, erachten selbst Experten nicht als Muss. Bei vielen Bewerben kann man selbst ohne Verein und als völliger Neuling schnuppern (siehe Infobox). Man muss ja nicht gleich übertreiben und an Olympia denken.

2 Technik Grundregeln

  1. Die Kniestreckung: Das Knie muss beim Aufsetzen des vorderen Fußes auf den Boden komplett durchgestreckt sein. 
  2. Keine „Flugphase“: Anders als beim Laufen muss immer ein Fuß auf dem Boden sein. 
  3. Je schneller man geht, umso schwieriger werden die Technik, die saubere Umsetzung und die Gefahr des „Abhebens“. Bei Wettkämpfen achten Kampfrichter auf die Einhaltung der Regeln, bei Hobby- und Anfängerbewerben wird von einer Jury mit Fingerspitzengefühl bewertet. Beim (privaten) Gehen im Freizeitsport spielen die offiziellen Regeln natürlich keine Rolle.

Weltrekorde

  • 10 km: 37:11 min, Roman Rasskazov (RUS, 2000) bzw. 41:04 min, Yelena Nikolayeva (RUS, 1996); Österreich, Frauen: 45:53 min, Viera Toporek (1993)
  • 20 km: 1:16:36 h, Yusuke Suzuki (JAP, 2015) bzw. 1:24:38 h, Liu Hong (CHN, 2015); Österreich: 1:25:32 h, Martin Toporek (1986) bzw. 1:46:31 h, Kathrin Schulze (2010)
  • 50 km: 3:32:33 Stunden, Yohann Diniz (FRA, 2014) bzw. 3:59:15 Stunden, Liu Hong (CHN, 2019); Österreich: 4:02:39 h, Stephan Wögerbauer (1992)

Nationale Wettkampfserien

Österreichischer Geher-Cup (oelv.at), Austrian Race Walking Trophy, Wiener Geher-Pokal, Steirischer Geher-Pokal (die drei letzteren sind für Einsteiger und vereinslose Sportler offen). Kontaktpersonen beim österreichischen Verband sind Gehsport-Referent Franz Schestack und Franz Kropik.

WEB: www.oelv.at 
WEB: www.geherpokal.de