Ist der Skitourensport schon groß genug, um den Alpin-Winter und die Wintersaison zu retten? Experten rechnen mit einem Corona-Boom zu den Tourenregionen. Doch hat es das Zeug zum echten Hoffnungsträger und wo sind die Chancen und Risiken?
Wie Ameisen. So strömten Skitourengeher schon im Oktober an der Marmolata auf den Berg. Die Hundertschaften, veröffentlicht per Facebookvideo, sorgten für heftige Diskussionen. Auch erste Meldungen aus Bayern sprechen von Befürchtungen um einen zu starken Zustrom auf die Skitouren abseits der Skigebiete und (geschlossenen?) Lifte. Das war in den letzten Wintern schon grenzwertig. „Entlang des bayerischen Alpenrandes und vor allem auf den Münchner Hausbergen drängten sich Tourengeher in dreistelliger Zahl am Gipfel“, schrieb der „Spiegel Online“ heuer. „Modetouren waren hoffnungslos überlaufen, dass man von Einsamkeit und Stille nur noch träumen konnte. Und statt Pulverschnee gab es eine von vielen Brettern durchpflügte Abfahrtsstraße, die sich von einer normalen Piste kaum noch unterschied.“
Auch hierzulande gibt es Befürchtungen, dass rund um Corona-Bestimmungen und Lockdown der individuelle Zug auf den Berg und der Skitouren-Trend sogar zu trendy sein könnte. Bergführer Paul Sodamin hat Bauchweh: „Hoffentlich sind die Berge im Winter nicht so überlaufen wie im Sommer, sonst kann alles einmal zu viel werden“, sagt er im SPORTaktiv-Interview. Aber es gibt wie bei jedem Trend überwiegend das Positive und die Gegenstimmen. Vor allem jener, die die riesigen Chancen sehen, den Tourensport noch populärer zu machen. Im Handel wird von ausverkauften Einsteigersets seit Herbst berichtet, einzelne Skihändler konnten ihre Ski gar nicht so schnell aus dem Lager holen, wie sie vorne im Shop schon wieder verkauft wurden. Vor allem Fitnessgeher, Frauen und Jugendliche mit hohem Mädchenanteil (teilweise mehr als 50 %) kommen verstärkt dazu. Experten sprechen von bis zu 120.000 neuen Skitourengehern allein in diesem Winter.
Was ist eine Skitour?
Beim klassischen Skitourengehen geht man allein oder in Kleinstgruppen mit Tourenski im freien Gelände bergauf. Auf den Skibelag wird ein wiederverwendbares Steigfell geklebt, das im Schnee enorme Steigfähigkeit hat. Vor der Abfahrt nimmt man es wieder ab. Ein Klapp- und Gehmechanismus bei der Bindung und bei den Tourenschuhen erlaubt eine freie Ferse und eine Gehbewegung bergauf. Bergab fährt man (mit fixierter Bindung) im freien Gelände. Fitness und gute Skitechnik sind deshalb genauso Voraussetzung wie Erfahrung beim Risikomanagement und Sicherheitsausrüstung.
Der Reiz
Tourengeher lieben das Gefühl der Freiheit, die Individualität, den unpräparierten (Tief-)Schnee und – im Idealfall – die Stille einer entlegenen Tour.
Sicherheitshinweise und Kursangebote:
www.naturfreunde.at
www.alpinesicherheit.at
Auch Martin Edlinger von den Naturfreunden Österreich sieht deshalb das Positive. „Der Trend in die Berge und zum Skitourengehen freut uns natürlich.“ In der ersten Lockdown-Phase im Frühjahr kam von den Naturfreunden noch die offizielle Empfehlung, keine Skitouren zu machen, um kein unnötiges Risiko einzugehen und Rettungsketten und Krankenhäuser nicht zu strapazieren, wie Edlinger, auch Einsatzleiter der Bergrettung, erzählt. Diese Einschätzung hat man in der jetzigen Phase geändert, weil man erkannte, dass die Unfallzahlen in der Praxis völlig dagegensprechen. „Und Social Distancing ist ohnehin erwünscht, weil man ja beim Tourengehen auch mit Abstand gehen sollte.“ Nachsatz: „Natürlich darf man bei oder nach der Tour nicht in die Hütte einkehren.“
Die Gefahr, dass selbst Skitouren eingeschränkt oder verboten werden, sieht Edlinger nicht. „Wir appellieren an alle, die Regeln einzuhalten. Denn wenn jeder sein Ding und seine Tour durchziehen will, wird es zu Konflikten kommen: mit der Jägerschaft, mit den Grundbesitzern, mit der Parkplatzsituation. Ein Too-much wollen wir tunlichst vermeiden.“ Auch wer bislang ausschließlich auf alpinen Pisten und in Skigebieten unterwegs war und jetzt erstmals mit Skitourenausrüstung ins (leichte) Gelände will, bekommt von Edlinger symbolisch grünes Licht. „Wir, die Naturfreunde, und auch die Bergführer wollen die neuen Skitourengeher bestmöglich mit Einsteigerkursen und Camps unterstützen. Da ist nur die Frage, wann wir wieder Veranstaltungen anbieten können.“ Bis dahin rät Edlinger Neueinsteigern zum Schnuppern auf „einfachen Haus- und Hofrunden“, wo man ohne Risiko erste Schritte machen kann. Für riskante Touren ist jetzt nicht die Zeit, dazu braucht es auch jahrelange Erfahrung und Expertise.
Auch für die Skigebiete, die noch Anfang Dezember sehnlichst auf Lockerungen bzw. Öffnungen und den regulären Betrieb warteten, sieht Edlinger große Chancen. „Im Vollbetrieb sind Tourengeher für die meisten Skigebiete nur Peanuts, aber vielleicht kippt in diesem Winter das Verhältnis ein wenig in Richtung Tour und es gibt neue Angebote, wo es ein Win-win für alle gibt.“ (Anm.: Siehe dazu auch unsere Story über neue Destinationsideen im Dezemberheft, S. 88). So könnte man etwa eigene Pisten oder Schneisen für Tourengeher freigeben oder bestimmte Pisten gar nicht präparieren. Naturfreunde-Experte Edlinger: „Wenn Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird, sollte dann auch klar sein, dass man als Tourengeher dafür bezahlt.“
Wie die rechtliche Situation um behördlich oder freiwillig geschlossene Skigebiete aussieht, ist selbst unter Juristen nicht zweifelsfrei zu klären. Darf man sie als Tourengeher im Sinne des „freien Betretungsrechtes des Waldes“ (und der Pisten) nutzen? Ist ein Skigebiet eine „Sportstätte“, die unter ein behördliches Betretungsverbot fallen könnte? Sind Pisten ein öffentlicher Ort oder landwirtschaftliche Nutzfläche? Dazu braucht es noch genauere Definitionen, meinen selbst Rechtsexperten, Karl Posch, das Urgestein der österreichischen Skitourenszene (siehe Interview), hat für ein gedeihliches Miteinander jedenfalls den wichtigsten Tipp parat: „Hirn einschalten und konsensual miteinander umgehen“. Dann stehen für uns alle die Chancen auf einen schönen Winter nicht schlecht. Auch in der historischen Corona-Saison.
Karl Posch - im Interview
skimo.at, ARGE Skibergsteigen
Hat das Skitourengehen heuer das Potenzial, zum Ski alpin aufzuholen, was Marktsituation, Handel und Akzeptanz betrifft?
Rund 600.000 Österreicher machen schon Skitouren. Im Handel ist in den letzten Jahren das Skitourensegment schön, aber langsam gewachsen, rund 6 bis 10 % pro Jahr. Erste Zahlen lassen schätzen, dass sich das durch diesen Winter erstmals verdoppelt! Aber im Vergleich zu den 365.000 Paar verkauften Alpinski pro Jahr sind die verkauften 58.000 Paar Tourenski noch wenig. Trotz positivster Entwicklung macht der Tourenbereich etwa nur ein Sechstel im Gesamtmarkt aus.
Sehen Sie heuer mehr Chancen oder mehr Gefahren?
Auf jeden Fall die Chancen, vom Mickey-Mouse-Umsatzbereich wegzukommen. Die langjährige Trägheit gewisser Tourismusregionen hat bislang eine ordentliche Reaktion auf die vielen Anfänger und Neueinsteiger verhindert. Das ändert sich heuer. Erstmals gibt es einen Destinationsgedanken und Skiregionen, die Skitouren bzw. das Skibergsteigen, wie wir es nennen, als wirkliche Säule im Konzept etablieren. Die Ideen waren schon da, Corona beschleunigt das Tempo gewaltig. Und dass es auf den Bergen zu viel wird? Könnte sein, ja. Nicht als Zahl, sondern als Faktum.
Was würden Skitourengeher am meisten brauchen?
Angebote dürfen nicht lustlos hingeschnalzt werden. Man muss sie richtig, ehrlich und nachhaltig ins Wintersportportfolio implementieren, das Entwicklungspotenzial ist riesig. Neukunden sollte man mit einem Konzept gleich für die nächsten Jahre binden. Was wir auch wissen: Skibergsteigen ist kein Stand-alone-Thema. Wenn man es nicht an Destinationen mit Skifahren und Langlaufen anbindet, fehlen die Wertschöpfungstiefe und das nötige Volumen.