Wie die Rad-Branche durch die Hochs und Tiefs der Krise kurbelt und sich dabei neu erfindet. Eurobike-Geschichten über Lieferengpässe, neue Mobilität, Bike to X, Internet of Things und die „Landflucht“ der weltweit größten Radmesse nach Frankfurt. 

Christoph Heigl
Christoph Heigl

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge traf sich die Fahrradbranche im September zur weltweit größten Radfachmesse im deutschen Friedrichshafen. Lachend, weil es nach zahllosen Onlinemeetings und -präsentationen endlich wieder direkten Kontakt zwischen Handel, Industrie, Medien und Fans gab. Weinend – oder zumindest nachdenklich –, weil die Eurobike nach dieser 29. Auflage die Zelte am gemütlichen Bodensee, in Reichweite der Alpen, abbricht und im nächsten Jahr ein neues Kapitel aufschlägt. Die Eurobike wird dem Trend zum Urbanen folgen, das Rad in die Stadt bringen und am neuen Standort Frankfurt Skyline und Radfahren verbinden. Mehr dazu später.

Lachend und weinend. So zwiespältig geht es auch der gesamten Branche. Der Radboom, befeuert durch Pandemie und Lockdownmaßnahmen, beschert dem Zweirad große Aufmerksamkeit und Absatzrekorde. Die ersten Zahlen für Deutschland zeigen im ersten Halbjahr 2021 ein weiteres Plus von 9,1 % bei verkauften Elektrorädern (insgesamt 1,2 Millionen neue E-Bikes). Burkhard Stork, Geschäftsführer des deutschen Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV), meinte: „Der Fahrradboom hatte schon vorher eingesetzt, aber Corona hat ihn zum Fliegen gebracht.“ Normale Räder sind allerdings um 26 Prozent zurückgegangen. Wäre eine höhere Inlandsanlieferung (Produktion + Import) möglich gewesen, hätten noch mehr Fahrräder verkauft werden können. Nach dem Rekord stehen jetzt aber die Lagerhallen bei vielen Firmen leer. Die Pandemie hat die eingefahrenen Transportwege aus Fernost durchkreuzt, mehr als doppelt so lange Liefer- und Wartezeiten, Engpässe und sogar Totalausfälle wichtiger Komponenten sind die Folge. Der Radkäufer muss wegen stark gestiegener Transportkosten für Schiffscontainer Preissteigerungen von 5 bis 10 Prozent schlucken. Eine Normalisierung des Marktes ist erst bis Ende 2024 erwartbar. Viele fordern jetzt eine Abnabelung von Fernost und mehr Produktion in Europa. Vergleichbare Zahlen zu Österreich liegen noch nicht vor, werden aber ähnlich erwartet.

Lachend und weinend zwischen satten Umsatz-Plus und Logistik-­Horror bilanzieren auch die Industrievertreter: Sie haben weiterhin Elektrifizierung, Motorisierung und Digitalisierung des Fahrrades im Fokus. Einer der Vorreiter dabei bleibt Branchenprimus Bosch E-Bike Systems, der in der Person von Geschäftsführer Claus Fleischer, selbst leidenschaftlicher Radfahrer und Biker, einen „Rad-Visionär“ an vorderster Front hat. „Das Rad war in den Lockdowns eine wichtige Alternative zu Öffis und Autos. Auch, weil die Straßen so herrlich leer waren. Das vermissen wir ja fast schon wieder“, meinte er mit einem Augenzwinkern. Mit der Bezeichnung „Gewinner in der Krise“ geht die Radbranche sehr vorsichtig um, Fleischer bestätigte aber ein Bosch-Plus von 25 Prozent, in den Kernmärkten D-A-CH und Holland schaffte man von 2019 auf 2020 sogar ein Plus von 35 Prozent. „Dieses Niveau gilt es vorerst zu halten.“ Die Lieferprobleme treffen mit voller Härte auch einen Riesenkonzern wie Bosch (u.a. ja auch in der Autoindustrie tätig). Fleischer: „Wir kämpfen um jedes einzelne Rad, das wir bauen können.“ Industrie und Handel würden diese herausfordernde Situation ganz gut bewältigen, meint er. „Wir erledigen unsere Hausaufgaben. Jetzt muss auch die Politik ihre Hausaufgaben machen und für die Zukunft eine radfreundliche Infrastruktur herstellen.“

Eurobike 2021

Weltweit führende Fahrradmesse mit Produktnews, Szenetreff, Vorträgen, Businesstalk und zwei Publikumstagen: heuer „nur“ 630 Aussteller aus 68 Nationen (18.770 Fachbesucher,  13.424 Konsumenten);
Vergleich zu Vor-Corona 2019: 1400 Aussteller aus 99 Nationen.


Termin 2022: 13. bis 17. Juli in Frankfurt (D).

Dieses Thema, Stadt und Verkehr, zieht sich wie ein roter Faden durch die Eurobike. Fleischer legt nach: „50 Jahre lang wurden die Städte um die Autos und für die Autos gebaut. Dabei stehen sie 23 Stunden am Tag bloß herum. Es braucht mehr Radinfrastruktur. Wir wollen smarter und sicherer unterwegs sein.“ Mit einer imaginären Glaskugel blickt Fleischer auf Anfrage zehn Jahre in die Zukunft, ins Jahr 2031. Er erklärt das Prinzip der Autozukunft und der Technik „Vehicle to X“ (V2X), die vorsieht, dass alle Fahrzeuge nicht nur miteinander, sondern auch mit jeglicher intelligenter Umgebung kommunizieren können. Den neuen Ansatz, auch Fahrräder ,,mitsprechen“ zu lassen, nennt Fleischer ,,Bike to X“. Die Vernetzung aller Verkehrsteilnehmer wäre die Folge, auch der dann autonom fahrenden Autos. Wie würde die Praxis 2031 aussehen? Das Rad hat einen Reifendefekt mitten in der Stadt, warnt das dahinter fahrende Auto, loggt die Route zur nächsten Werkstatt ins Bike-Navi, meldet online den Termin dort auch gleich an, schützt den Radfahrer bis dahin mit Sicherheitshinweisen am Display, nimmt Änderungen am Setup des Bikes vor (Helm, Bremsen, Federung) und verständigt per Mail den wartenden Termin in der Firma, dass es 45 Minuten später wird. Fleischer winkt ab: „Das kommt alles nicht morgen.“ Aber es kommt. „Die digitale Zukunft des Rades beginnt. Das ist erst der Anfang.“ Es fallen Begriffe wie „voice assistance“, also Sprachsteuerung, umfassende Sicherheitsmaßnahmen in Form eines „digital safety shield“, künstliche Intelligenz, das IoT („Internet of Things“) und in Summe das „digitale Biken“. Wer weiß, wie umfangreich und kompliziert die Software, Vernetzung und Koppelung aller Geräte jetzt im Jahr 2021 schon sein kann, darf befürchten, dass hier auch viel Überforderung und möglicherweise ein „too much“ an Technik kommen wird.

Bosch stellte auch die neueste Generation der E-Antriebe vor, die jetzt mit neuer App („Flow App“), neuen LED-Kontrollern, größerem Akku (750 Wh, mit 4,4 kg etwas schwerer und größer), Wettervorhersagen und vielen Möglichkeiten zur Vernetzung (Navi, Fit-Tracking) kommt „bis etwa Weihnachten“. Diebstahlschutz und Notruffunktion sind auch möglich. Mit neuer Verkabelung kommen leider auch neue Standards und neue Ladegeräte, die mit den herkömmlichen nicht kompatibel sind.

Noch einmal zum Standortwechsel der Messe im nächsten Jahr vom Bodensee in die Finanzmetropole Frankfurt: Die „Landflucht“ passt natürlich zum Cityschwerpunkt der Szene. Der Markenkern der Eurobike bleibt unverändert, jedoch werden ihre Inhalte breiter, zeitgemäßer und auch urbaner. Neue Schwerpunkt-Themen: Micro Mobility, Technologie, Fitness, Gesundheit, Lifestyle, Tourismus, Infrastruktur und Nachhaltigkeit. Die neuesten Mountainbikes und Rennräder, Szenenews und Party soll es trotzdem geben. Eine besondere Rolle wird zukünftig in der gesellschaftlich-politischen Komponente des Radfahrens liegen. Dazu passen auch die Video-Grußworte von Angela Merkel zu Beginn der Eurobike: „Deutschland setzt voll auf das Thema Rad und den nationalen Radverkehrsplan 3.0. Der Bund stellt dafür bis 2023 insgesamt 1,46 Milliarden Euro zur Verfügung.“ Enorme Summen werden also investiert. Der österreichische Eurobike-Besucher fährt nach Hause, mit der leisen Hoffnung, dass auch die heimische Politik das Rad erkennt und beginnt, in die Pedale zu treten.

Die Gold-Award-Gewinner 2021


Cargoline FS 800, Kettler E-Cargobike

Smartgrip D500+, E-Bike-Bedientasten im Lenkergriff integriert

Veloine Pregnancy Cycling Kit, Radhose und Trikot für (hoch)schwangere Frauen

Tex-Lock Raijn, multifunktionaler Ganzkörper-Regenanzug (Jacke + ­Einteiler)

Classified Powershift Hub, Kombination aus klassischer Schaltung und Zweigang-Planetengetriebe

Ortlieb Quick-Rack Light, leichter ­Gepäckträger für Rad-Taschen 

Datum by Digit Bikes, featuring Analog Suspension: integriertes Federsystem in Oberrohr und Unterrohr


www.eurobike.com