Hans Knauß hat von zu Hause vor allem vier Dinge mitbekommen: die Liebe zum Skisport, den Mut zum Risiko, den Drang nach Freiheit – und die nötige Freundlichkeit, mit der man überall Erfolg hat.

Protokolliert von Michael Schuen

Ich bin ein Bergkind. Unser Haus war mitten auf der Planai, viel haben wir nicht gehabt, aber das spielte keine Rolle. Mein Vater war ja einer der letzten Kriegsgefangenen, die in die Heimat zurückgekehrt sind. Er hatte das Pech, als 19-Jährige noch 1943 eingezogen worden zu sein, wurde dann im Krieg verwundet. Als er 1955 nach Hause kam, hatte er nichts – außer seiner Freiheit, die war dann auch immer sein höchstes Gut. Ihm war wichtig, dass auch wir Kinder Freiheit hatten. Nichts tun wäre zwar nicht gegangen, aber wenn wir etwas tun wollten, dann ist er dahintergestanden. Vielleicht bin ich auch deswegen so ein freier Vogel, das ist gut möglich. Unser Haus, das haben meine Mutter und er buchstäblich mit eigenen Händen erbaut. Geld war nie wirklich da, aber es hat uns auch an nichts gefehlt. Ich war das jüngste Kind von sechs Geschwistern, fünf Buben und ein Mädel. Man kann sich das schon so vorstellen: Wenn mein Bruder einen neuen Pullover bekommen hat, dann habe ich mich auch gefreut. Weil ich wusste: In zwei Jahren gehört er mir. Und das hat mir echt auch getaugt.

Mein „Dati“ war Liftwart am Märchenlift auf der Planai. Kein Wunder, dass der Winter bei uns eine zentrale Rolle gespielt hat. Wir hatten kein Auto, also waren Ski das Hauptfortbewegungsmittel im Winter. Wir sind oft in der Lifthütte gesessen, haben dem Vater die Jause weggegessen aus seiner silbernen Box und seinen Tee getrunken. Den Geruch nach Öl und Schmiermittel habe ich noch immer im Kopf. Noch heute denke ich sofort an meine Kindheit, wenn ich in einer alten Liftstation bin. Und nach der Schule hat man sich früher einfach auf der Piste getroffen, ganz ohne Verabredung, Handy gab es ja keines. Spätestens um zwei bin ich rauf zur Bergstation, wenn noch keiner da war, habe ich eine Runde am Märchenwiesenlift gedreht, beim Vater vorbei. Spätestens nach der zweiten Runde hat dann einer der Freunde oben gewartet. Und nach Liftschluss haben wir in der Hütte gewartet, bis der Vater fertig war mit der Arbeit, er ist dann mit uns runtergewedelt, hat sich immer an die Kanten gestellt und kontrolliert, ob wir eh springen können. Unsere Freunde Heinz und Reini, die heute die Schafalm haben, waren fast immer dabei. Was haben wir auf deren Bauernhof oft für Blödsinn gemacht, bis wir verjagt wurden. Einmal haben wir die schönste Birke am Hof umgesägt – und waren auch noch stolz drauf. Wir erzählen uns heute noch oft die Geschichten von damals, wenn ich auf der Schafalm vorbeischau. Das Schöne damals war diese unfassbare Freiheit. Wenn wir einen ganzen Tag nicht heimgekommen sind, hat sich keiner Sorgen gemacht. Es war klar, dass wir entweder bei den Nachbarn oder auf der Piste sind.

Ich glaube ja, dass ich damals unbewusst die Basis für meinen Sieg in Kitzbühel gelegt habe. Wir haben ganz schön wilde Sachen gemacht und als Jüngster wollte ich allen anderen erst recht beweisen, was ich für ein wilder Hund bin. Es gibt wohl wenig andere, die einen natürlicheren Zugang zu gefährlichen Situationen auf Ski haben als ich. Wir haben Schanzen gebaut, direkt neben Liftstützen, und sind nach Liftschluss wie die Berserker die Abfahrt nach unten gerast. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir daheim Schnitzel gegessen und dabei die Abfahrt aus Kitzbühel angeschaut haben. Ich hatte keine Ahnung, wo dieses Kitzbühel ist. Aber ich habe gemerkt, dass das Zuschauen den Dati bewegt. Nach dem Rennen hab ich mir mit vollem Schnitzelbauch die Skischuhe angezogen und bin auf die Ski. Wir haben uns im Wald eine riesige Schanze gebaut, die wir „Hausbergkante“ getauft haben – und dann haben wir uns immer wieder drübergehaut. Das Rennfahren, das war immer Teil der Familie. Von den Ortsmeisterschaften ist jeder von uns mit einem Pokal nach Hause gekommen – vom Papa über alle fünf Brüder bis hin zur Schwester, nur die Mama fuhr nicht. Leider hat es damals noch keine Familienwertung gegeben, die hätten wir haushoch gewonnen. Skifahren war alles – im Gegensatz zur Schule. Leider, wie ich heute sagen muss.

Damals war es aber so, dass mich die Schule vom ersten bis zum letzten Tag nur angezipft hat, so ehrlich muss ich sein. Ich war zwar kein Trottel, aber interessiert hat mich das Lernen nie. Am ersten Tag, als ich den Berg hinuntermusste, war ich richtig schüchtern. Ein Haufen fremder Leute war da – und ich hab den ganzen Tag nur gezappelt, bis ich endlich wieder raus auf den Berg durfte. Auf die Ski oder aufs Rad. Und später, viel zu früh und schwarz, aufs Moped. Beim Rennfahren war ich nie schüchtern. Vom ersten Rennen an habe ich gespürt, dass ich so Aufmerksamkeit bekomme. Und ich wollte immer zeigen, was ich kann. Talent hatte ich ja zum Glück. Mit zwölf Jahren habe ich, obwohl ich nicht in die Skihauptschule gegangen bin, dann die „Trofeo Topolino“ gewonnen, das wichtigste Kinderrennen der Welt. Kurz darauf erlebte meine Familie den schlimmsten Moment. 1985 verunglückte mein zweitältester Bruder Helmut, ein Skilehrer und der vielleicht technisch beste Skifahrer, den ich je kannte, tödlich – eine Lawine. Er war mein Mentor, hat mir Tipps gegeben. Und bei uns daheim war Familie immer wichtig.

Was meinen Eltern auch wichtig war, bei aller Unterstützung, die wir für unsere Ideen bekamen, war eine gewisse Erziehung: „Griaß di, pfiat di, bitt schen, dånk schen“, das war Standard. Dafür bin ich bis heute dankbar. Denn ein gewisser Umgang – Höflichkeit und Freundlichkeit – öffnet dir weltweit Tür und Tor. Das ist immer ein guter Einstieg. Ich sollte dann auch ins Berufsleben einsteigen, Schlosser werden. Da kam das Skifahren irgendwie dazwischen. Mit 15 Jahren bin ich ganz alleine mit dem Zug nach Altenmarkt gefahren, zur Firma Atomic. Dort habe ich mich bis zum Chef, Alois Rohrmoser, durchgekämpft. Der hat schon gewusst, wer ich bin, ich hab ja viele Rennen gewonnen. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass ich, wenn ich im Sommer in der Produktion arbeiten darf, es im Winter bis in den ÖSV schaffen kann. Er hat mich angestellt, so war ich versichert. Auskommen musste ich mit dem Geld, das ich im Sommer verdiente. Ich hab also für mich sorgen müssen, seit ich 15 war.

Einmal hatte ich eine schlechte Phase, bin auf FIS-Ebene fünfmal in Serie ausgefallen. Die Mama hat gefragt, ob ich nicht doch was lernen sollte, was G’scheites halt. Aber der Dati hat nur gesagt: „Bua, übernimm di nur net. Das wird scho.“ Dieser Satz ist bis heute in meinem Kopf. Es war nicht wie heute, wenn Eltern, ja ganze Privatteams, ihr Kind nur antreiben. Papa gab mir die Freiheit, zu tun, was ich tun wollte. Das halte ich auch bei meinen Kindern so. Meine Tochter will auch Skifahrerin werden. Mein Sohn hat andere Ziele, aber auch große.

Irgendjemand hat mir einmal gesagt, dass ich „Hans im Glück“ bin. Das stimmt bis zu einem gewissen Grad sogar – aber ich habe schon hart für dieses Glück arbeiten müssen. Mein Talent allein reichte nicht. Ich habe es bis nach Kitzbühel geschafft. Am Tag meines Sieges, 1999, waren meine Eltern auch da – und das kam nicht oft vor. Sie lebten immer mit, aber sie sind nie ausgeflippt. Egal, ob ich gut oder schlecht war. Aber an diesem Tag, als ich sie dann im Ziel traf, da habe ich dieses unfassbare Glück gesehen, die Dankbarkeit in ihren Augen. Papa wollte selbst Skifahrer werden, bevor er in den Krieg musste. Mein Bruder Bernhard und ich gaben ihm die Möglichkeit, das wirklich mitzuerleben, wovon er selbst geträumt hat. Dieser Moment, als ich all das in ­seinen Augen sah, war beeindruckend für mich. ­Unvorstellbar, fast wie der Sieg.