Sind die Norweger so gut im Sport, weil sie früher mal Wikinger waren? Oder liegt es daran, dass sie sich nicht stressen lassen? Der norwegische Langlauf-Coach Trond Nystad hat Antworten. Und die legen uns nahe, unsere Leistungsfähigkeit nicht als Ergebnis in Zahlen wahrzunehmen. Sondern vielmehr als Gefühl.

Axel Rabenstein
Axel Rabenstein

Trond, wann war dir klar, dass der Sport dein Leben ist?
Norwegen ist ein Land, in dem die Kinder Sport treiben. Du bist einfach dabei, beim Langlauf, in der Leichtathletik, beim Fußball. Über das Laufen erhielt ich ein College-Stipendium in den USA, wo ich neben dem Studium meine Karriere als Trainer begann.

Du hast als Headcoach die Langlaufteams der USA und Norwegens betreut, hattest Trainerstationen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich. Wie beschreibst du deine heutige Trainingsphilosophie?
Ich habe Einflüsse aus verschiedenen Mentalitäten und Ausdauersportarten. Was für mich heute zentral ist: Wer in die Weltspitze vordringen möchte, muss sehr viel trainieren. Und dabei geht es vor allem um Kontinuität.

Das heißt?
Das volle Potenzial aus einem ­Athleten herauszuholen, ist ein langwieriger Prozess. Du musst hart arbeiten. Du musst aber auch vernünftig arbeiten. Wer mit zu wenig Erholung trainiert, mit zu wenig Spaß und zu wenig Gefühl – der wird wertvolle Zeit verlieren, weil er mental oder körperlich ausgelaugt ist. Wir gehen davon aus, dass rund 60 Prozent aller Athleten während ihrer Karriere ein „Unexpected Underperformance Syndrom“ oder auch kurz UUPS erleiden.

Weil sie zu schonungslos arbeiten?
Genau. Viele Athleten trainieren zu ungeduldig und verlieren dadurch an Leistungsfähigkeit.

Liegt das am Ehrgeiz?
Das hat mit Ehrgeiz, aber auch mit der Kultur zu tun. In vielen Ländern ist schnelle Höchstleistung gefragt. Daran hängen Fördermittel  und Trainingsmöglichkeiten. Schon in der Jugend wird spezialisiert und das führt nicht zu ausgeglichenen Athleten. Jeder muss sich im eigenen Tempo entwickeln. Das ist der Unterschied im skandinavischen Modell. Wir selektieren nicht mit 12 oder 13 Jahren in Kader, um Weltmeister zu formen. Wir möchten den Kindern erst einmal beibringen, die Welt zu meistern. Dafür halten wir so viele wie möglich so lange wie möglich im Sport. Alle sollen mitmachen. Ganz ohne Stress. Das ist der Grundgedanke. Und daraus entsteht nachhaltiger Erfolg.

Mit 148 Goldmedaillen bei Olympischen Winterspielen ist Norwegen die erfolgreichste aller Nationen. Ist das Erfolgsrezept so einfach? Sich keinen Stress zu machen?
Gute Trainer gibt es in jedem Land. Aber das System macht Stress. Damit verlierst du Sportler, die sich vielleicht erst später entfaltet hätten. In Norwegen trainieren wir gerne in großen Gruppen, Kinder, Teenager, Eltern und Senioren. Du tauscht dich aus, hast Freude und entwickelst dich als mündiger Athlet. In vielen Ländern soll man als Nachwuchsathlet den Mund halten und tun, was der Trainer sagt. Bestzeiten und knüppelharte Arbeit stehen im Fokus. Dabei verlieren nicht wenige die Fähigkeit, auf ihren Körper zu hören.

Wer mit zu wenig Erholung trainiert, mit zu wenig Spaß und zu wenig Gefühl – der wird wertvolle Zeit verlieren.

Trond Nystad

Kann man mit Daten von Ruhepuls oder Herzratenvariabilität nicht verlässlich seine Erholung überwachen? 
Das sind definitiv zwei Parameter, die hilfreich sind, um zu sehen, ob man mal vom Gas gehen sollte. Sie ersetzen aber kein über Jahre hinweg optimiertes Gefühl. Unser Körper sendet kontinuierlich Signale und die sind exakter als die Daten eines Messgeräts. Manche Athleten vertrauen mehr auf ihre Uhr als auf ihren Körper. Sie denken, jeden Tag das Maximum aus sich herausholen zu müssen, sie sind müde, häufiger krank – und das ist leider das Gegenteil von Kontinuität.

Du betreibst ein Trainingsinstitut namens MYRA. Was bedeutet das?
Myra heißt Sumpfgebiet. Lange Läufe in der Myra sind ein bewährtes Training in der norwegischen Skikultur. Dort kann man sich stundenlang austoben, auf weichem, schonenden Boden. Es fördert Ausdauer, Kraft und mentale Stärke. Für uns ist es ein Symbol dafür, dass Leistungssport von Grund auf natürlich ist – und man keinen Doktortitel braucht, um erfolgreich zu sein.

Dennoch ist Sport eine Wissenschaft. Welchen Erkenntnissen folgt ihr?
Studien helfen, aber die Qualität ist nicht immer hoch. Deshalb setzen wir vor allem auf unseren empirischen Erfahrungsschatz. Das macht in meinen Augen auch deshalb Sinn, weil bis heute auf höchstem Niveau sehr unterschiedlich trainiert wird.

Nämlich? 
Die deutsche Schule absolviert Grundlagentraining häufig im Bereich von Laktatwerten mit 1,5 bis 2 Millimol. Die Norweger eher bei 1 Millimol oder sogar darunter. Ein Tadej Pogacar propagiert Training mit einer Herzfrequenz in Zone zwei. Das funktioniert nicht bei jedem, noch dazu wird Zone zwei nicht überall identisch definiert. Selbst Experten reden nicht immer über die gleiche Sache.

Was ist die beste Lösung?
Ich denke, dass der ruhige Weg zu trainieren nicht so schlecht abschneidet, übrigens auch in intensiven Einheiten. Läufer wie die Ingebrigtsen-Brüder oder die norwegischen Langläufer gehen kaum über drei Millimol Laktat, dafür in längeren Intervallen von 60 bis 90 Minuten. Der Umfang der Norweger ist höher geworden, die Intensität dafür umso kontrollierter. Am Ende musst du testen, Daten auswerten und sehen, ob du erfolgreich bist oder etwas an deiner Philosophie ändern solltest.

Was empfiehlst du Hobbyathleten, die nicht mit Laktatwerten und ­Datenmengen agieren können?
Ein Trainingstagebuch zu führen! Aufzuschreiben, wie man sich fühlt. Und zu beachten, dass auch die weltbesten Athleten 90 Prozent ihrer Zeit im Grundlagenbereich trainieren. Unbedingt Erholungsphasen einbauen, statt jede Woche 20 Stunden zu trainieren, lieber mal 25 und dann wieder nur 15 Stunden. Abwechslung ist wichtig, nicht nur bei Speed und Dauer des Trainings, sondern auch bei Untergrund, Steigung oder Art der Bewegung.

Unser Körper sendet kontinuierlich Signale, und die sind exakter als die Daten eines Messgeräts.

Trond Nystad

Mit welchen Athleten arbeitest du derzeit?
Gerade war ich in Kasachstan, wo wir dem Biathlon-Verband bei der Trainerausbildung helfen. Das tun wir auch für die Internationale Biathlon-Union. Die norwegischen Langläufer Didrik Tønseth und Emil Iversen bereiten wir auf die Olympia-Quali vor. Und ich habe auch schon mit Alpinskiläufern trainiert, wie sie technisch effektiv anschieben, um schneller zu starten.

Es heißt, du hättest die Gabe, Technik besonders gut erklären zu können. Ob Piste, Loipe oder Kraftkammer. Wie machst du das?
Mir geht es nicht darum, recht zu haben, sondern mit den Sportlern zu experimentieren. Sie sollen spüren, was passiert. Das verbinden wir häufig mit spezifischen Kraftübungen, die die richtige Technik verstärken. Es geht nicht um starre Bewegungen, sondern um fließende Lösungen für verschiedene Bedingungen.

Was ist der Tipp, den du jedem Sportler geben würdest?
Bewegung braucht Zeit. Deshalb ist Trainingskontinuität der wichtigste Parameter.

Was sollte ich als Sportler ­vermeiden?
Der größte Fehler ist, sich keinen Plan zu machen. Und der zweitgrößte Fehler ist, seinem Plan zu folgen. Sport ist ein Gefühl, deshalb sollte man seinen Plan fortlaufend mit der Realität synchronisieren.

Zum Abschluss: dein schönstes Sporterlebnis?
Ich erinnere mich an 2015. Mein Athlet Sjur Røthe hatte krank die WM-Qualifikation verpasst, zwei Wochen später gewann er die 50 Kilometer am Holmenkollen. Martin Sundby, damals unser stärkster Athlet, wurde nur Dritter, freute sich aber so sehr über den Sieg seines Teamkollegen, wie ich es selten erlebt habe. Menschen, die im Team arbeiten und sich ihren Erfolg von Herzen gönnen: Das ist wahrer Sportsgeist – und hat mich wirklich berührt. 

Trond Nystad
Trond Nystad

wurde 1970 in Fauske (Norwegen, nördlich des Polarkreises) geboren. Er war Cheftrainer an der University of Denver im Cross Country Running, seit 2002 trainierte er u. a. die Skilanglauf-Nationalteams der USA, Norwegens und Österreichs. Trond lebt in Ramsau am Dachstein, mit seinem Unternehmen MYRA betreut er Athleten und Verbände in aller Welt. 

WEB: www.myracad.com