Warum „Risikosportarten“ keineswegs nur ein Ausdruck einer oberflächlichen Spaßgesellschaft sind, sondern die Ausübenden und die Gesellschaft weiterbringen können. Und warum es besser ist, Risikokompetenz zu erwerben, als Risikovermeidung zu betreiben. 

Christof Domenig
Christof Domenig

Nein, wir wollen hier zum Start der schneelosen Bergsaison keineswegs gegen Sicherheitsdenken anschreiben. Aber Kletterer und Höhenbergsteiger, Wildwasserkajaker, Freerider oder andere „Risikosportler“ werden oft in eine Schublade gesteckt: Die der rücksichtslosen Adrenalinjunkies. Für einen egoistischen Lust-Trip setzen sie ihr Leben aufs Spiel. Und wenn sie verunglücken, auch das von Helfern und Rettern. Die andere Seite benennt Peter Gebetsberger von den Naturfreunden: „Immer weniger Menschen sind heute bereit, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Die Scheu vorm Risiko, das Abgeben von Verantwortung und der Hang zum Nichtentscheiden hat aber Folgen: Stress bis hin zum Burn-out für den Einzelnen. Vor allem aber führt es zu einer Gesellschaft, in der Innovationen der Vergangenheit angehören.“ 

Angemessener Umgang mit Risiko
Mit Sorge beobachtet Gebetsberger auch, dass es Kindern in unserer „Sicherheitsgesellschaft“ immer weniger ermöglicht wird, Erfahrungen zu sammeln: aus Angst vor vermeintlichen oder realen Gefahren. Der Sportwissenschafter und Bergführer hat Jugend-Sommercamps (siehe Übersicht am Ende des Artikels) initiiert, die Erfahrungen im Klettern, Kajaken und in anderen „risikobehafteten“ Sportarten ermöglichen. Professionell angeleitet und im geschützten Rahmen. Doch solche Sportarten seien auch für Erwachsene ideal, um „Risikokompetenz“ zu erwerben und sich weiterzuentwickeln. Denn, so die These: Risikokompetenz, also das Erkennen und angemessene Beurteilen von riskanten Situationen, ist für sich gesehen nicht nur ein Sicherheitsfaktor in der jeweiligen Sportart: Sondern lässt sich auch in anderen Lebensbereichen sehr gut brauchen. Noch mehr: Sie ermöglicht erst eine lebendige, freie Gesellschaft.

Gebetsberger erklärt den Zusammenhang: „Ein gewisses Maß an Risikokompetenz ist eine Grundvoraussetzung, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Im Beruf, in der Freizeit, in der Familie wie in jedem sozialen Umfeld.“ Und: „Risikokompetenz umfasst auch besonders den Umgang mit Situationen, in denen nicht alle Faktoren erkennbar sind und berechnet werden können.“
Beim Risiko muss nämlich unterschieden werden: Es gibt solches, das sich gut berechnen lässt. Im Sport ist dies beispielsweise bei Pisten-Skiunfällen so: Man weiß sehr genau, wann und unter welchen Umständen die meisten dieser Unfälle passieren, welche Körperteile vorwiegend betroffen sind usw. Entsprechend einfach lässt sich dieses Risiko reduzieren.
Auf der anderen Seite gibt es ungewisses Risiko. Darunter fällt etwa die Lawinengefahr. Oder jene im Wildwasser. Genau solche, nicht einfach zu berechnende Gefahren gäbe es in allen Lebensbereichen. „Wir sollten uns von der Illusion einer umfassenden Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit verabschieden“, fordert der Experte. „Trotzdem müssen wir nicht in Angststarre verfallen, denn gute Entscheidungen sind in jedem Fall möglich. Je berechenbarer eine Situation ist, desto sinnvoller ist die Anwendung von statistischem Denken. Je unberechenbarer, desto mehr brauchen wir Intuition aus Erfahrung.“

Entfaltung der Kräfte
Gebetsberger zitiert den Psychoanalytiker Erich Fromm: „Ungewissheit zwingt den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte.“ Doch wie funktioniert das genau? Jeder Mensch handelt und trifft Entscheidungen aufgrund von gemachten Erfahrungen und abgespeicherten Eindrücken. Diese Eindrücke sind uns nur teilweise bewusst – viel mehr sind im Unterbewusstsein gespeichert. Gerade die Letzteren sind bei der intuitiven Entscheidungsfindung von Bedeutung. Der Naturfreunde-Experte verweist auf Forschungen, laut denen Top-Manager, die sehr komplexe Sachlagen beurteilen müssen, viel mehr Entscheidungen intuitiv als rational fällen. Zurück zum Risiko: Je früher man damit konfrontiert werde, umso besser lerne man damit umzugehen. Je größer der bewusste – und vor allem auch unbewusste Erfahrungsschatz, desto größer die Chance, eine gute Entscheidung zu fällen. Ein erfahrener Paddler kann beispielsweise aus den Bewegungen des Wassers intuitiv auf eine unter der Oberfläche verborgene Gefahr schließen. Noch ein Punkt: Wer Risikosituationen kennt und in Spannungssituationen erfahren ist, kann besser damit umgehen – zum Beispiel sich bewusst entspannen. Und er weiß, auf seine Intuition zu vertrauen. Hier wirken die im Sport gemachten Erfahrungen auf andere Lebensbereiche.

Einstieg in gesicherten Räumen
Sich Risikokompetenz anzueignen, ist also wertvoll. Viele Outdoorsportarten sind dafür perfekt geeignet. Der Erwerb funktioniert, richtig durchgeführt, sehr gut in abgesicherten Räumen. Etwa durch Wissenserwerb – „aber vor allem über das Tun: im Idealfall betreutes, selbstverantwortliches und herausforderndes Handeln.“
Wesentliche Prägungen passieren in der Kindheit: Kindern sollten daher Erfahrungen ermöglicht werden. Nicht das Klettern auf einen Baum verbieten, sondern Vertrauen ausstrahlen und nur einen Sturz vom Baum auffangen. Im Grunde verhält es sich beim Herantasten an „Risikosportarten“ nicht anders. Man sollte früh beginnen (wobei auch wenig gegen späteren Einstieg spricht), kompetent begleitet. Beim Klettern etwa lernt jeder als Erstes zu sichern, Stürzen wird trainiert, Fehler müssen möglich sein. Und doch weiß jeder von Beginn an, dass die Verantwortung beim Sichern eines Partners nicht abgegeben werden kann. Steigerungen sollen in kleinen Schritten erfolgen, emotionale Beteiligung in Form von Spaß, Mut etc. soll mitspielen. Viele und vielfältige Erfahrungen sollen gemacht werden, meint Gebetsberger. Die Intuition sieht er übrigens in Verwandtschaft zur Kreativität. Beide würden im Vergleich zur Rationalität heute gering geschätzt. So wie auch der Begriff „Risiko“ negativ behaftet sei. „Aber Rationalität bringt allenfalls gutes Handwerk hervor – Spitzenleistungen entstehen dagegen auf intuitiv-kreativer Basis“, ist Gebetsberger überzeugt. Sie brauchen den Mut und die Fähigkeit, auch bei ungewissem Ausgang gute 
Entscheidungen zu treffen.

Mag. Peter Gebetsberger
Mag. Peter Gebetsberger

ist Sportwissenschafter, staatl. geprüfter Bergführer und leitet unter anderem das Referat Sportklettern bei den Naturfreunden Österreich.

Naturfreunde

Web: www.naturfreunde.at