Klettern statt Karriere, Natur statt Großstadt, Ruhe statt Trubel. Wir haben uns auf die Suche nach dem Spirit beim Bouldern gemacht.

Von Klaus Molidor


Rätselrasten im 3-D-Modus. Ob die Lösung richtig ist, verrät dir der eigene Körper. Das ist Bouldern. Am Boden wird nach einer Route im Fels gesucht, auf der dann geklettert wird. War die Lösung falsch – kein Problem. Sprung zu Boden auf ein Crashpad aus dickem Schaumstoff und das Rätselraten beginnt von Neuem. „Bouldern bedeutet Freiheit, Natur, Kraft, sich spüren", sagt Kletterlehrer Jakob Wurm von den Naturfreunden. „Und das ganze natürlich gewürzt mit einem Schuss Coolness."

Denn Bouldern ist mehr als nur Klettern, es ist ein Lebensgefühl. Es geht (meistens) nicht um sportliche Höchstleistungen, nicht um schneller, höher, stärker. „Man geht erst einmal gemütlich zum Felsen, chillt ein bisschen, wärmt sich auf und legt erst dann los", erzählt Wurm. Entschleunigung in stressigen Zeiten, raus aus dem Trubel der Großstadt, das suchen Boulderer. Und das Gemeinschaftsgefühl. Während man am Fels zu zweit klettert und dabei meist weit auseinander ist, weil einer in der Wand steht und der andere unten sichert, kann man beim Bouldern in Gruppen nach einer Lösung suchen und sie gemeinsam ausprobieren.

„Man kann natürlich auch am Fels alleine bouldern, aber in der Gruppe macht es einfach mehr Spaß", befindet Wurm und ist schnell bei einem feurigen Plädoyer für das Klettern in Absprunghöhe. „Du bist zu 100 Prozent fokussiert auf das, was du gerade tust. An einer schwierigen Stelle kannst du es dir nicht leisten, auch nur einen Moment an etwas anderes zu denken. Du bist eins mit dir und mit der Umgebung. Die Zeit scheint stillzustehen. Solche Flow-Erlebnisse machen süchtig."

Eine Sucht, die zur Folge hat, dass sich Boulderer mitunter Jobs suchen, die ihnen genug Zeit und Freiraum für ihr Hobby geben. Große Karriere und Definition über den Job? Das brauchen viele Boulderer nicht. „Weil dieser Sport eine individuelle Ausdrucksform ist und auch Identität stiftet", sagt Wurm. Es gibt aber auch durchaus strukturierte Workaholics, die sich an Nachmittagen und Wochenenden Zeit fürs Bouldern aus ihren prallen Terminkalendern schneiden. „Insgesamt ist es sicher ein Lebensstil, bei dem persönliches Glück und das Erleben möglichst vieler schöner und intensiver Momente als Lebensmaxime im Mittelpunkt stehen", philosophiert Wurm.


Video: Motivation fürs Bouldern

Eine homogene Gruppe ortet er dagegen nicht. Den einen typischen Boulderer sucht man vergebens. Manche Kletterer betreiben den Sport schon 20, 30 Jahre und waren Pioniere. Es gibt junge, starke Wettkampfkletterer, die mit wenig Erfahrung am Felsen aus der Kletterhalle kommen. Oder die Hobbykletterer, die ohne große Leistungsambitionen einfach eine schöne Zeit in der Natur verbringen wollen. „Und natürlich die Generation des urbanen Fitness-Fun-Boulder-Trendsports, die den Felsen als erweiterten Aktionsraum kennenlernen", erklärt Jakob Wurm. Die Grenzen zwischen den einzelnen Typen sind in der Praxis natürlich fließend und verschwimmen.

Allen gemein ist, dass sie den „Boulder" – also das klettertechnische Problem – auf möglichst kreative Art lösen wollen. „Wenn es nicht mehr auf herkömmlichem Weg geht, müssen wir uns von eingefahrenen Bewegungsmustern trennen und Neues, manchmal auch Absurdes ausprobieren", erzählt Wurm. Und das geht in der Gruppe eben leichter, weil das kreative Potenzial dadurch steigt.

WEITE HOSEN, ENGE SHIRTS
Wie jede Gruppe hat auch die Boulder-Gemeinschaft ihren eigenen Stil. „Eher weite Hosen zum Beispiel", sagt Wurm. „Denn Bewegungsfreiheit ist wichtig und es muss ja kein Klettergurt drüberpassen." Die T-Shirts sind dafür eher eng, um die Muskeln zu betonen, und in kräftigen Farben. „Weil sich die auf den Fotos besser vom Felsen abheben", erklärt Wurm. Dazu kommen, ähnlich wie bei den Skatern und Snowboardern, auch Mützen, Kappen, coole Sweatshirts. Längst haben Bergsportmarken die Boulder-Community als Kundschaft erkannt und eigene Boulder-Linien herausgebracht.

Hin und wieder stehen am Fuße der Felsen auch Boxen, aus denen HipHop, Reggae, Dub oder Elektro-Beats kommen – auch wenn das von vielen mitten in der Natur durchaus kritisch betrachtet wird.

Was den Erfolg dieses relativ jungen Sports, der sich in den 1990er-Jahren als eigene Sportart und nicht bloß als Training fürs Sportklettern etabliert hat, ausmacht? Es ist seine Einfachheit, seine Reduktion auf das Wesentliche, mutmaßt Jakob Wurm. Wie jedes gute Spiel kommt es mit wenigen Regeln, wenig Material und wenig Organisationsaufwand aus. Oder, wie es Wurm ausdrückt: „Von unten nach oben, ohne dabei den Boden zu berühren. Der Weg, die Linie, wird vom Fels vorgegeben. Sie ist einfach da und es braucht nur noch jemanden, der sie erkennt, entschlüsselt und beklettert." Und das ohne viel Schnick-schnack drumherum. Es braucht – abgesehen von Kletterschuhen – kaum spezifische Ausrüstung, keine vorbereitete Wand, die bereits mit Haken versehen ist, kein Wissen um Seile, Sicherungen und Knoten. „Eventuell ein bisschen Chalk, also Kletterkreide und ein Crashpad."

DOSIERTER NERVENKITZEL
Bouldern stärkt auch das Vertrauen, die Beziehung zweier Menschen zueinander. Denn während der Eine im Fels unterwegs ist, steht unten meist ein „Spotter", der dafür sorgt, dass der Kletterer im Ernstfall nicht kopfüber oder neben der Matte landet und der den Sturz ein wenig abfängt. „Da braucht es natürlich Vertrauen in den Partner, auf den du dich voll verlassen können musst."

Und dann ist da noch der Nervenkitzel, das Überwinden der Angst, wenn es darum geht, eine schwierige Stelle noch zu probieren, obwohl ein Sturz aus drei Metern Höhe die Folge sein könnte. „Das Wechselspiel zwischen Kontrolle und Freiheit, das bewusste oder auch unbewusste Risikomanagement ist beim Bouldern ständig dabei. Und eine wesentliche Würze dieses Bewegungsspiels", erklärt es Jakob Wurm.

Mag. Jakob Wurm / Bild: Naturfreunde Österreich

Der Experte

MAG. JAKOB WURM ist Mitglied des Sportkletter-Lehrkaders der Naturfreunde.

Wurm bildet Sportkletter- Übungsleiter und Instruktoren aus und bouldert aus Leidenschaft, weil dabei Taktik, Psyche und Technik voll gefordert werden.

Web: www.naturfreunde.at

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