Rund 600 Teilnehmer hörten beim Internationalen Lawinensymposium der Naturfreunde in Graz, was in Wahrheit für mehr als 600.000 Geländeskifahrer von größter Bedeutung ist. SPORTaktiv spielt daher wieder den Vermittler zwischen Experten und Freizeitsportlern – und fasst hier alles Wissenswerte aus den Referaten der „Lawinenprofis“ zusammen.

Von Christof Domenig

Ein schöner Spätwintertag 2010, Lawinenwarnstufe 3, ein Skitourenpärchen unterwegs auf einem seiner Hausberge. Das im Tourengehen erfahrene Paar trifft an diesem Tag mehrere Fehlentscheidungen. Mit der Folge, dass die Frau ihr Leben in einer Lawine verliert, die ihr Mann ausgelöst hat. Der 46-Jährige wird später vom Gericht der fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen und zu drei Monaten bedingter Haft verurteilt.

Der Fall aus dem Salzburger Lungau, den die Richterin Dr. Dalia Tanczos beim Internationalen Lawinensymposium der Naturfreunde in Graz schilderte, bewegte spürbar die Gemüter der rund 600 Zuhörer im Saal. Wie die Juristin ausführte, hatten die beiden Salzburger Tourengeher zwar ein LVS-Gerät mit, aber nicht eingeschaltet und im Rucksack verstaut. Statt die sichere Abfahrt über den Bergrücken zu wählen, fuhr das Paar einzeln in einen steilen Hang ein. Doch der Mann wartete nicht, bis seine Frau eine sichere Standposition erreicht hatte – der zu früh in den Hang Einfahrende löste die fatale Lawine aus. Vor allem den letzten Punkt – das unsachgemäße Durchführen des „einzeln Abfahrens“ – führte das Gericht als entscheidend für die Verurteilung an.

IM NAMEN DES GESETZES
Wem aber ist wirklich bewusst, dass ein Fehlverhalten im alpinen Gelände strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann? Allein diese Tatsache ist ein Grund mehr, sich als Tourengeher, Freerider oder Schneeschuhgeher mit dem Thema alpine Gefahren intensiv auseinanderzusetzen, sich ständig weiterzubilden und das eigene Wissen zu erweitern. Das war, auf den Punkt gebracht, auch die wichtigste Botschaft dieses großen Lawinensymposiums, bei dem sich im Anschluss nicht nur die anwesenden Bergführer die brisante Frage stellten: „Kann ich tatsächlich dafür verurteilt werden, wenn mir im Gelände eine Fehleinschätzung unterläuft?“

Aus dem Urteil des Oberlandesgerichtes Linz ließen sich dazu einige interessante Aspekte herauslesen, wie die Richterin Dr. Tanczos erklärte: Das Gericht habe etwa im Zusammenhang mit diesem tragischen Fall festgehalten, dass „auch nicht professionellen Tourengehern die Kenntnis gewisser Zusammenhänge und Risikovermeidungsmethoden zugemutet werden kann“. Eine „sichere Tour“ kann es nie geben, so die Richter – folglich sei niemand, der sich ins Gelände wagt, von Eigenverantwortung ausgenommen. Heißt auch: Eine „Vollkasko-Mentalität“, bei der man zum Beispiel die gesamte Verantwortung auf einen Bergführer ablädt, wird vom Gesetzgeber nicht unterstützt. Abschließend betonte die Richterin, dass die Zahl realer Verurteilungen in Verhältnis zu den Unfällen gering sei – „man soll sich vor Lawinen mehr fürchten als vor einer Verurteilung“. Trotzdem, das war spürbar, blieb ein gewisses Unbehagen unter den Teilnehmern zurück.

GEFÄHRLICHE FEHLERKETTEN
Umso mehr, als bei diesem Symposium auch weitere Vorträge nachdenklich machten, weil hier klar zum Ausdruck kam, wie komplex die Einschätzung von Verhältnissen und Gefahrenquellen im Gelände (zum Beispiel das Abschätzen der Hangsteilheit aus der Ferne) in Wahrheit ist. „Fehler im Nachhinein zu benennen, ist immer trivial“, hielt etwa der Tiroler Sachverständige Mag. Walter Würtl fest, als er Einblicke in seine Erhebungsarbeit nach Lawinenunfällen gab. Nach jedem Lawinenunfall ermittelt ja die Alpinpolizei den Unfallhergang – und da werden Sachverständige wie Würtl hinzugezogen. „In den seltensten Fällen ist es ein einzelner Punkt, der zu einem schweren Unfall führt. Fast immer sind es komplexe Fehlerketten oder fatale Faktorenkombinationen“, erklärte der Experte. „Was im Nachhinein oft logisch und klar erscheint, stellt sich vor dem Lawinenabgang – vor allem aus subjektiver Perspektive – oft anders dar.“

Würtl verwies inbesonders auf den in der Fehlerkette oft entscheidenden „Faktor Mensch“, und schilderte den Fall eines verunglückten jungen Freeriders: „Der hatte sein LVS-Gerät am Unglückstag bewusst zu Hause gelassen, damit seine Mutter glaubt, er würde nur auf der Piste fahren und sich keine Sorgen machen muss ...“


Video: Naturfreunde Lawinensymposium, 2015 - Trailer

15 SEKUNDEN SIND ZUWENIG
Ein wesentlicher Teil des Naturfreunde-Symposiums war den „Lawinenlageberichten“ und dem Umgang damit gewidmet. Das aufmerksame Studieren des Berichts ist bekanntlich ein wesentlicher Teil der lebenswichtigen Tourenplanung.

Doch wie steht es um dieses „aufmerksame Studium“ in der Praxis? „Nur 10 bis 15 Sekunden beträgt die durchschnittliche Verweildauer auf Internetseiten der Lawinenwarndienste!“ Diese alarmierende Tatsache nahm Dr. Bernd Zenke vom Lawinenwarndienst Bayern zum Anlass, um den einheitlichen Aufbau von Lawinenlageberichten zu erläutern.

„Dieser Bericht ist in Form einer Pyramide strukturiert: An der Spitze steht die knappe Information mit Schlagzeile und Gefahrenstufe, erst nach unten hin wird es immer detaillierter. Während Einsteiger manchmal nichts weiter als die Gefahrenstufe im oberen Teil wahrnehmen, tauchen nur Fortgeschrittene und Experten immer weiter in die Tiefe des Berichtes ein, um mehr Wissen zu sammeln.“ Es müsse das Ziel sein, dass durch Aus- und Weiterbildungen allen Tourensportlern bewusst wird, wie wichtig es ist, sich in einen Lawinenlagebericht im wahrsten Sinn des Wortes zu vertiefen, plädierte Zenke. Die Experten suchen ja ständig nach Möglichkeiten, die Lawinenlageberichte benutzerfreundlicher und das hier vermittelte Wissen für Einsteiger verständlicher aufzubereiten. Drei Referenten (der Schweizer Dr. Thomas Stucki, der steirische Mitorganisator Dr. Arno Studeregger und die Tiroler Dr. Rudi Mair und DI Patrick Nairz) stellten dazu ihre landestypischen Konzepte vor: Der steirische Lawinenlagebericht etwa wird seit 2014 neu im Internet dargestellt, die aktuelle Situation wird auf sechs „W“-Fragen heruntergebrochen und stichwortartig beantwortet. Laut Studeregger hätten Umfragen bestätigt, dass die Verständlichkeit bei weniger routinierten Nutzern deutlich gestiegen sei.

Wie gefährlich ein bloß oberflächliches Betrachtung der Lawinenlage ist, erläuterte auch der Bayer Bernd Zenke in seinem Referat über Fehlinterpretationen von Lawinengefahrenstufen. „Immer wieder ist der Lawinenwarndienst Bayern mit groben Missverständnissen konfrontiert. Etwa, dass die Gefahrenstufe 3 – also „erhebliche Lawinengefahr“ – als mittlere der fünf Stufen absolut unterschätzt wird; viele glauben auch, dass bei Stufe 2 nur in sehr steilem Gelände etwas passieren könne; oder dass man bei Stufe 1 überhaupt sorglos losziehen kann.“ Die fünf Warnstufen, resümierte Zenke, verbinden viele offenbar unbewusst mit dem Schulnotensystem. So nach dem Motto: Stufe 2 ist gut! „Wer sich bei solchem und ähnlichem Denken ertappt, sollte sein Wissen dringend auffrischen.“

KEIN SCHWARZ UND WEISS
Antworten auf die aktuelle Gefahrenlage finden sich aber nicht nur im Lawinenlagebericht, sondern vor allem im Gelände. Das machte ein weiterer Lawinenexperte aus dem Freistaat Bayern, Dr. Christoph Mitterer, deutlich.

Er widmete sich der Hangneigung als Hauptfaktor für die Fahrfreude, aber auch der Gefahr. „Rote und schwarze Hänge, also gefährliche und ungefährliche, liegen nah beieinander“, warnte Mitterer, „genauso, wie in der Natur draußen nichts schwarz und weiß ist – auch wenn uns das manche Lehrmethode in der Vergangenheit weismachen wollten“

Mitterer wies auch speziell auf Geländefallen hin, „fachsprachlich ,Terrain Traps‘ genannt, die erst in jüngster Zeit angemessene Beachtung und Eingang in die Lehre finden“.

LAGEBERICHT AM NACHMITTAG
Den Abschluss des Symposiumstages bestritten zwei Experten der Naturfreunde Österreich: Dr. Marcellus Schreilechner, Bergführer-Ausbildner und Sachverständiger, formulierte gleich eine Forderung der Naturfreunde: „Die Herausgabe eines aktuellen Lawinenwarndienstes sollte nicht um 7.30 Uhr morgens passieren, sondern bereits am Nachmittag zuvor!“ Die Tourenplanung als Um und Auf für die Sicherheit erfolge ja üblicherweise am Vorabend einer Tour – „morgens bleibt allenfalls Zeit für einen kurzen Blick auf den Bericht, oft sogar nur noch von unterwegs per Smartphone. Für die entscheidende Planung am Vortag muss man also auf veraltetes, unaktuelles Material zurückgreifen“, lautete die durchaus schlüssige Argumentation von Dr. Schreilechner.

Symposiums-Mitveranstalter Arno Studeregger vom Lawinenwarndienst Steiermark steht dieser Forderung aufgeschlossen gegenüber: „Der Morgen-Termin ist in Österreich historisch gewachsen. Eine Umstellung wäre sicher möglich, wenn der Wunsch danach besteht. Allerdings bedarf diese Umstellung Einigkeit unter allen Lawinendiensten in den einzelnen Bundesländern.“

Auf jeden Fall haben die Naturfreunde mit ihrer Forderung einen Diskussionsprozess gestartet, der über diesen Winter laufen sollte und ab der Wintersaison 2016/17 zu einer Umstellung führen könnte.

Neben dieser Forderung stellte Marcellus Schreilechner zwei druckfrische Folder der Naturfreunde für den Praxisgebrauch vor:

  • Einen „Wegweiser“ zum Naturfreunde-Konzept „w3 – wer geht wann wohin?“ zur einfachen Selbsteinschätzung für eigenverantwortliches Handeln im Gelände. Es ermöglicht Wintersportlern, die sich ins lawinengefährdete Gelände begeben, sich einer von vier Gruppen zuzuordnen (Einsteiger, mäßig Fortgeschrittener, Fortgeschrittener und Profi) und sich entsprechend der persönlichen Kompetenzen risikobewusst im Gelände zu bewegen.
  • Der zweite Folder „Notfall Lawine“ dient als Leitfaden und Hilfe, wenn ein Unglück passiert ist. Beide Folder im Taschenformat können kostenlos bei den Naturfreunden (auf www.naturfreunde.at) bestellt werden.


DIE BILDER IM KOPF
Mag. Peter Gebetsberger, Erfinder des „w3“-Entscheidungskonzepts der Naturfreunde und Bergführer mit psychologischer Ausbildung, stellte schließlich nochmals den „Faktor Mensch“ in den Mittelpunkt. „Was ist Realität? Wir erschaffen uns die Welt im Kopf! Was wir wahrnehmen, sind nichts als Abbilder, Interpretationen der Welt – und entsprechend fehleranfällig. Doch tatsächlich sind diese Bilder die Grundlage für alle unsere Risikoentscheidungen.“

Die Konsequenz, die Gebetsberger aus dieser Erkenntnis zog, konnte durchaus als Quintessenz dieses Internationalen Lawinensymposiums gelten: „Ständig Erfahrungen zu sammeln, Wissen zu erwerben, sich langsam vor zu tasten, immer mit anderen zu kommunizieren und gute Bilder zu entwickeln – das muss für alle, die im freien Gelände ihr sportliche Erfüllung finden, ein lebenslanger Prozess sein.“


Dieser Artikel stammt aus dem SPORTaktiv Magazin Nr. 6/2015. Ein technischer Fehler hat leider dazu geführt, dass dabei eine Textpassage verloren ging.

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