„Ein Knall und es hat mich gleich umgeworfen.“ Dem Münchner Daniel Buss (siehe Fotos oben) passierte, was auch im Winter 2014/15 vielen widerfuhr: Er wurde von einer Lawine mitgerissen. „Mein Airbag hat mir das Leben gerettet“, ist Daniel überzeugt. Wie Lawinenairbags funktionieren, was die potenziellen Lebensretter bewirken und wo ihre Grenzen liegen.

Von Christof Domenig


Vierzig Zentimeter Powder, gemischte Wetterverhältnisse und Lawinenwarnstufe 3 herrschten an dem Tag, an dem Daniel Buss seinen Lawinenairbag zum Einsatz bringen musste. Der 39-Jährige war mit einer schwedischen Freundin in den Kitzbüheler Alpen Freeriden. An einer Stelle, die der seit Jugendtagen erfahrene Skitourengeher und Geländeskifahrer schon unzählige Male in seinem Leben befahren hatte, passierte es: „Ein Knall, ein dumpfer Schlag und es hat mich sofort umgerissen. Die erste Reaktion war totale Ungläubigkeit – ,wie kann mir das passieren’? Der zweite Gedanke: ,Zieh den Airbag’!“
Die ersten Sekunden in der Lawine habe er noch als relativ wenig bedrohlich empfunden, erinnert sich Buss, „doch dann ging es über eine Kante runter, das Tosen wurde richtig laut. Da wird einem plötzlich die Lebensgefahr bewusst, aber man ist zu beschäftigt damit, gegen die Lawine zu kämpfen, um viel nachzudenken“.
Als die Lawine zum Stehen kam, wurde Buss bis zur Brust von nachkommendem Schnee verschüttet, die Hände aber hatte er frei. Seine schwedische Begleiterin Stina, die keinen Airbagrucksack trug, war dagegen komplett verschüttet, in eineinhalb Metern Tiefe. Buss konnte erst sich selbst und dann seine Freundin ausgraben. Und er ist felsenfest davon überzeugt: „Mein Airbag hat uns beiden das Leben gerettet.“
Das Erlebte beeindruckte Daniel Buss so, dass er ein halbes Jahr später beim Lawinenairbag-Hersteller ABS eine Arbeitsstelle annahm ...

WIE AIRBAGS WIRKEN
Daniel Buss, mittlerweile Head of International Sales bei ABS, sagt auch: „Mein Erlebnis war eigentlich die perfekte Versuchsanordnung für den Beweis, dass das Prinzip Lawinenairbag funktioniert.“ Die Wirksamkeit von Airbags ist heute tatsächlich gut erforscht. Zum einen das Funktionsprinzip: Dabei geht es um den „Paranusseffekt“, der besagt: Werden Teilchen mit unterschiedlichem Volumen gemeinsam in Rotation versetzt, dann werden Bestandteile mit größerem Volumen nach oben, die mit kleinerem nach unten gedrückt. Genau genommen geht es dabei nicht um absolute Größe, sondern um das Volumen-Gewichts-Verhältnis. Laut ABS hat ein Kilogramm Lockerschnee im Extremfall ein Volumen von ca. 2,5 Litern – „ein Kilogramm Mensch“ dagegen ein Volumen von nur rund 1 Liter. Ein Mensch, der inklusive Ausrüstung 100 Kilogramm wiegt, benötigt daher rein physikalisch betrachtet ein Zusatzvolumen von rund 150 Litern, um in einer Lockerschneelawine nach oben gedrückt zu werden. Zur Sicherheit haben aufgeblasene ABS-Airbags 170 Liter Volumen. In Nassschneelawinen könnte das benötigte Airbagvolumen sogar wesentlich geringer ausfallen, um zu wirken. Auch interessant: Lawinengefahr: 11 Sicherheitstipps vom Bergretter.

ÜBERLEBENSCHANCEN STEIGEN
Aber nicht nur die Funktionsweise, auch die Auswirkungen des Airbags auf Lawinenunfälle werden seit Jahren von der Alpinwissenschaft erforscht. „Dass Lawinenairbags die Überlebenschance deutlich erhöhen, daran besteht kein Zweifel“, sagt Michael Larcher, Leiter der Bergsportabteilung im Österreichischen Alpenverein.
Studienergebnisse unterschieden sich lediglich in der Frage, wie stark Airbags diese Überlebenschance erhöhen würden: ABS wirbt seit Jahren mit „97 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit laut unabhängiger Studie“. Larcher kennt diese Schweizer Studie, die Lawinenunfälle statistisch auswertete und diesen Wert 2008 ermittelte. „Bei der ‚Kontrollgruppe‘ ohne Airbag wurden 75 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit ausgewiesen.“ Anders gerechnet: Ohne Airbag stirbt jeder Vierte – mit Airbag nur jeder Dreißigste!
Weniger dramatisch, aber auch eindeutig „pro Airbag“ sind die jüngsten Zahlen zu interpretieren, die ein internationales Autorenteam um den Kanada-Schweizer Pascal Haegeli 2014 vorlegte: „Dabei wurde ein strengerer Ansatz gewählt, zum Beispiel kleinere Lawinenereignisse weggelassen“, erklärt Larcher. Ergebnis: 22 Prozent Mortalitätsrate ohne Airbag, 11 Prozent mit. Lawinenairbags können also nach dieser Studie rund die Hälfte der Lawinentoten verhindern.

DIE GRENZEN DES AIRBAGS
In dem Studienergebnis zeigen sich aber auch die Grenzen des Lawinenairbags. Überlebensversicherung ist er keine – und darauf weisen auch Hersteller wie ABS explizit hin. Gründe dafür gibt es einige: Physikalisch betrachtet kann der Airbag nur in einer Fließlawine funktionieren; ist der menschliche Körper nicht in Bewegung (z. B. in einer Senke oder am Ende einer Lawine, wenn noch Schneemassen nachfließen), kann er selbstverständlich trotz Airbags vollständig vom Schnee begraben werden.
Die Haegeli-Studie hat auch ermittelt, dass ein Teil der Lawinenopfer mit Airbag diesen nicht auslösen konnte. „Das kommt zwar selten, aber tatsächlich vor. Meiner Erfahrung nach können zwei Ursachen dahinterliegen“, meint der Alpenvereinsexperte: „Bei Menschen mit wenig Erfahrung mit Lawinensituationen ist eine Art Schockstarre möglich, bei der man unfähig ist, zu reagieren. Die zweite Gruppe sind dagegen Geländeroutiniers, die glauben, einer Lawine noch per Schussfahrt entkommen zu können, und dann, wenn sie den Ernst der Lage erkennen, nicht mehr zum Ziehen kommen.“

Video: Lawinenairbags im Test mit Dommys


TIMING BEACHTEN

Auch bei ABS weiß man: „Ist man einmal in der Sturzdynamik einer Lawine gefangen, kann es unmöglich sein, den Auslösegriff zu ziehen. Daher sofort auslösen.“ Die „zweite Chance“, die ABS anbietet, ist ein Fernauslösesystem, das auch Kameraden betätigen können.
Larcher erklärt, wie das richtige Verhalten sein sollte: „Sobald eine Lawine losgeht, am Auslösegriff ziehen! Panik ist fehl am Platz, man hat fürs Auslösen in der Regel nicht bloß eine, sondern drei, vier Sekunden Zeit. Erst danach kommen alle anderen Maßnahmen, die auch ohne Airbag gelten – wie der Versuch, aus der Lawine herauszufahren, ‚Hunde-Schwimmbewegungen‘, oder der Versuch, eine Atemhöhle zu schaffen, wenn die Lawine zum Stehen kommt.

RISIKOBEWUSSTSEIN NOTWENDIG
Eine jährliche Testauslösung jedes Lawinenairbags wird übrigens nicht nur zur technischen Funktionsüberprüfung empfohlen, sondern auch, um mit der Situation vertraut zu sein und intuitiv richtig zu reagieren. Larcher empfiehlt, sich mit dem Ernstfall ab und zu psychisch vertraut zu machen, „dann stellt die richtige Reaktion in der Regel kein Problem dar“.
Kritiker von Lawinenairbags argumentieren manchmal damit, dass das Sicherheitsplus zu mehr Risiko verleiten würde. Studienautor Haegeli hält auch explizit fest: „Sicherheitsgewinne sind schnell zunichtegemacht, wenn sich die Benutzer von Airbags verleiten lassen, sich ins noch extremere Gelände zu begeben.“
Michael Larcher meint dazu: „Das ist ernst zu nehmen. Der Alpenverein spricht auch bewusst nicht von einem Rettungsgerät, sondern von einer Notfallausrüstung, die zusätzlich zur Pflichtsicherheitsausrüstung – Suchgerät, Sonde und Schaufel – empfohlen wird. Es wäre aber ein Totschlagargument gegen jeden Sicherheitsfortschritt, wenn man aus den Bedenken schließen würde, die Lawinenairbags seihen abzulehnen.“

80 PROZENT NOCH OHNE AIRBAG
Der objektive Sicherheitsgewinn durch Lawinenairbags ist erwiesenermaßen beträchtlich. Dass man sich damit nicht zu mehr Risiko verleiten lassen, die Lawinenausbildung nicht vernachlässigen und die volle Sicherheitsausrüstung immer mit dabei sein sollte, das ergibt sich eigentlich schon daraus, dass der Airbag auch Grenzen hat: Wie ESP oder ABS beim Auto kann auch der Lawinenairbag die Physik nicht außer Kraft setzen – aber einen deutlichen Sicherheitsgewinn erzielen. Während ABS und ESP heute aber jeder im Fahrzeug eingebaut hat, schätzt Alpinexperte Larcher, „dass derzeit rund 20 Prozent im Gelände mit Airbag unterwegs sind. Empfehlen würde ich ihn jedem.“
Auch Daniel Buss ist sich bewusst, dass sein Lawinenunfall trotz Airbag auch anders ausgehen hätte können. „Ich war bis zur Brust wie einbetoniert, hatte aber die Hände frei und konnte an meine Lawinenschaufel gelangen. Als ich mich ausgrub, bin ich auf einen Ski meiner Freundin gestoßen. Dadurch konnte ich sie nach rund acht Minuten befreien. Sie war bewusstlos, hat aber geatmet.“ Außer Prellungen ist beiden nichts passiert – „wir hatten Riesenglück – und ich einen Airbag. Gleich danach hat sich meine Freundin auch einen gekauft ...“


ACHTUNG, RÜCKRUFAKTION!
Lawinenairbags müssen, um ihre Funktion zu erfüllen, gepflegt und gewartet werden. Die Herstellerangaben dazu sind unbedingt zu befolgen. ABS empfiehlt etwa, die Patrone vor jedem Einsatz zu kontrollieren, vor jeder Saison eine Trainingsauslösung zu absolvieren und das Gerät alle drei Jahre vom Hersteller einem General-Check unterziehen zu lassen.
Um das Funktionieren ihrer Geräte zu gewährleisten, laufen bei zwei Herstellern derzeit Rückrufaktionen, die unbedingt beachtet werden sollten:



Mag. Michael Larcher DER EXPERTE
Mag. Michael Larcher aus Innsbruck ist Bergführer und Leiter des Referats Bergsport im Österreichischen Alpenverein.

Kontakt: michael.larcher@alpenverein.at



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