Mag sein, dass ihn ein Indianer nicht kennt. Wir Normalsterbliche dafür umso mehr: Schmerzen im Bewegungsapparat gehören für viele Menschen bereits zum Alltag – und lassen sie in der Qual buchstäblich erstarren. „Falsch", sagt der Schmerz-Mediziner, „tatsächlich könnten viele Betroffene ihre permanenten Schmerzen mit Sport und Bewegung killen!"

Von Linda Freutel


Der Nacken sticht, im Lendenbereich zieht es, der Schädel brummt, die Wadenkrämpfe werden nicht besser. Autsch! Schmerzen sind nicht nur quälend, sondern vor allem auch deprimierend. Was dazu führt, dass Schmerzgeplagte nicht nur ihre Lebenslust, sondern vor allem auch ihre Bewegungslust verlieren. Gesteuert von der uralten medizinischen Lehre, wonach eben nur mit Schonung und Ruhigstellung der Schmerz bekämpft werden kann. Frei nach dem Motto: Wenn man sich nicht bewegt, kann auch nichts wehtun.

„Aber das ist keine gute Idee“, sagt Prof. Dr. Andreas Sandner-Kiesling, Schmerzspezialist in Graz, „denn inzwischen ist die Forschung viel weiter und korrigiert ihre alte These: Wer unter Schmerzen am Bewegungsapparat leidet, sollte sich nicht schonen, sondern vielmehr Sport betreiben.“

,Sport ist die beste Medizin‘ – der Spruch hat absolut Gültigkeit, wird von Mediziner Dr. Sandner-Kiesling sogar noch verstärkt: „Sport ist die beste Schmerztherapie überhaupt. Bewegung wirkt nämlich umfänglicher und nachhaltiger, als es jedes Schmerzmittel tun könnte. Durch Bewegung werden Schmerzen nicht nur gelindert, sondern auch ihre Ursache behoben.“


SCHMERZEN SIND WARNSCHREI
Abgesehen davon, dass man mit Sport auch ganz allgemein seine Fitness und damit wiederum die Abwehrkraft stärkt, verbessert sich damit auch nachweislich die psychische Stabilität und damit sogar das persönliche Schmerzempfinden. „Schmerzen sind ja in vielen Fällen nicht unbedingt einem Trauma, also einer relevanten Schädigung des Gewebes geschuldet, sondern vielmehr ein präventives Warnsystem“, erklärt unser Experte. Schmerzen sind nichts anderes als ein Hinweis des Körpers, dass eine Verletzung oder nachteilige Veränderung (zum Beispiel in einem Gelenk, an den Knorpeln oder Wirbeln) droht, wenn man nicht bald etwas dagegen unternimmt.

In der Regel sind es die Sehnen, Bänder oder Muskeln, von denen dieser schmerzende Warnruf ausgeht. Befindet sich der Körper beispielsweise dauerhaft in einer (Fehl-)Haltung (ob bei der Arbeit am Computer, im Alltag oder auch beim Sport selbst) oder kommt es zu einer spontanen Bewegungseinschränkung (bestes Beispiel ist der „Hexenschuss“ durch falsches Heben), so wird der Zellstoffwechsel an den betroffenen Körperstellen unterbrochen, „die Sauerstoffversorgung ist hier nun reduziert, es bilden sich Spannungen oder Verhärtungen in der Muskelregion und gegebenenfalls sogar Entzündungen. Diese drücken wiederum auf die Schmerzsensoren und melden dem Gehirn: ,Achtung, hier läuft etwas verkehrt‘.“

AB ZUM ARZT!
Ohne den Schmerz würden wir solche „Soll-Bruchstellen“ gar nicht bemerken, weiterhin in der Fehlhaltung bleiben – und müssten zwangsläufig früher oder später mit einer wirklichen und nachhaltigen Schädigung des betroffenen Gewebes rechnen. „Natürlich betrifft diese These
von den ,warnenden‘ Schmerzen nicht die Schmerzen, die durch einen bereits eingetretenen Defekt im Körper erzeugt werden“, sagt Dr. Sandner-Kiesling, „schwere Entzündungen, Bandscheibenvorfälle, Brüche, Tumore oder eingeklemmte Nerven sind keine Warnungen mehr, sondern ein Fall für den Arzt und selbstverständlich ein absolutes Tabu für sportliche Betätigung.“ Aber auch das sollte allen klar sein: Einen Arzt gilt es ohnehin bei jeglicher Art von Schmerz zu konsultieren. „Und zwar so schnell wie möglich“, sagt der Mediziner nachdrücklich.

„Wer seinen Körper schont, um dem Schmerz auszuweichen, der hat eigentlich schon verloren.“

DR. ANDREAS SANDNER-KIESLING, SCHMERZSPEZIALIST IN GRAZ


CHRONISCHE SCHMERZEN
Schmerzen können sich bei fehlender oder falscher Behandlung nämlich verselbstständigen, manifestieren und zu einer chronischen Belastung werden. Wird der Schmerz nicht aufgelöst, verkrampfen und verspannen die betroffenen Stellen immer stärker. Das kann so weit führen, dass zwar der ursprüngliche Schmerzauslöser gar nicht mehr vorhanden ist, der chronische Schmerzreiz sich trotzdem rasant auf das umliegende Gewebe ausbreitet und nun praktisch nur noch um seiner selbst willen existiert. „Der Schmerz wird intensiver und beginnt zu wandern. Ist dieses Stadium erst mal eingetreten, ist die Therapie sehr aufwendig.“ Als Faust formel nennt unser Schmerz-Spezialist: „Bleibt ein Schmerz länger als zwei Wochen bestehen, sollte zwingend ein Arzt aufgesucht werden. Bleibt man länger untätig, wird der Schmerz immer schwerer behandelbar. Bereits ab zwölf Wochen spricht man dann von chronischen Schmerzen.“

WER RASTET, IST SELBST SCHULD
Aber einmal abgesehen von dieser Gefahr: Nur ein Experte kann verlässlich beurteilen, von welcher Relevanz und welcher Ursache ein Schmerz ist. Wird nämlich keine bedrohliche Erkrankung festgestellt, sondern der Schmerz eben als „Warnschuss“ erkannt, dann gilt es, sich tatsächlich an den Indianern ein Beispiel zu nehmen. „Wer sich schont, um dem Schmerz auszuweichen, hat schon verloren“, so Sandner-Kiesling.

Eine Studie niederländischer Mediziner um Robbart van Linschoten von der Erasmus-Universität Rotterdam beweist das, was auch Sandner-Kiesling predigt: Ruhe und Schonhaltungen verschlimmern den Schmerz, anstatt ihn zu verbessern! Der Grund klingt logisch: Durch Bewegung wird der Stoffwechsel in jeglichem Gewebe angeregt, die Blutzufuhr intensiviert sich, Schlack- und Entzündungsstoffe können abgebaut werden. Zudem werden durch dehnende Bewegungen schmerzende Spannungen und Verhärtungen regelrecht aufgebrochen – der Teufelskreis aus Anspannung und Schmerz wird unterbrochen. „Man muss sich das schmerzende Gewebe vorstellen wie einen Schwamm, der mit schädlichen Schmerzsubstanzen und Entzündungsindikatoren vollgesogen ist. Wir müssen ihn fluten und quetschen, um diese Schadstoffe wieder herauszubekommen. Und genau das bewirkt in unserem Körper die regelmäßige Bewegung“, sagt Sandner-Kiesling.

HEILEN, NICHT ÜBERLASTEN
Der Mediziner warnt natürlich vor sportlichem Übereifer: „Es gilt, den Körper in die Heilung, aber keinesfalls in eine Überlastung zu bewegen.“ Wer den Schmerz gänzlich ignoriert, es mit der Belastung übertreibt oder die falschen Bewegungen ausführt, der erreicht wiederum einen gegenteiligen Effekt; die Schmerzen werden schlimmer statt besser.

Welcher Sport und welches Pensum das richtige ist, hängt von der Art des Schmerzes ab. Sandner-Kiesling erklärt: „Leichte Verspannungen können bereits durch ein allgemeines, sanftes Training gelindert werden. Spannt der Nacken oder ist der Rücken verkrampft, kann man durch Walking, Yoga, Schwimmen oder ruhiges Laufen dagegen antrainieren. Hat der Patient aber beispielsweise einen Tennisarm oder ein anderes spezifisches Schmerzmuster, gilt es, dieses auch gezielt zu behandeln. Sogenannte paradoxe Belastungen, also gezielte Gegenbewegung zum Krampfschmerz, wirken heilend, sollten aber keinesfalls in Eigenregie durchgeführt werden.“ Die Anleitung und Unterstützung eines Physiotherapeuten ist hier also unerlässlich.

HÄNDE WEG VON TABLETTEN
Ebenfalls rät Sandner-Kiesling von einer Selbsttherapie durch Schmerzmittel. „In diesen Tabletten steckt ein kleines Teufelchen. Selbst viele der frei verkäuflichen Schmerzmittel wirken so gut, dass der Betroffene fast schmerzfrei ist und dadurch verleitet wird, es mit dem Training zu übertreiben. Wer nicht merkt, was er tut, tut garantiert das Falsche“, sagt der Mediziner und ergänzt: „Kurzfristig und im Akutfall bringen Schmerzmittel zwar eine verlässliche und legitime Erleichterung. Letztlich heilend wirken aber keine Tabletten, sondern allein eine gute, gezielte Therapie – zum Beispiel durch Bewegung und am besten unter Anleitung eines Physiotherapeuten.“


SCHMERZEN FANGEN IM KOPF AN
Neben dem physischen Nutzen bringt sportliche Bewegung bei der Behandlung von Schmerzen vor allem auch einen psychischen Benefit, weiß der Experte: „Die Psyche ist überhaupt eine der wichtigsten Komponenten bei Schmerzen. Denn unser Schmerzempfinden ist zu einem Großteil subjektiver Natur.“ Soll heißen: Wie stark wir einen Schmerz empfinden, hängt weniger von seiner Ursache oder dem betroffenen Gewebe, sondern vor allem von unserem Kopf ab.

Studien belegen, dass Testpersonen, die stets dem gleichen Schmerzreiz ausgesetzt wurden, je nach Stimmungslage ein unterschiedliches Schmerzempfinden hatten. Probanden, die zusätzlich mit Stressfaktorenwie etwa Lärm konfrontiert wurden, empfanden die Schmerzen stärker als jene, die zum Beispiel ihre Lieblingsmusik hören durften. Auch die Verabreichung von Schmerzpräparaten mit Placebo-Wirkung wirkte positiv auf das Schmerzempfinden.

Bei diesen Tests fand man auch heraus, dass sportliche Aktivität eines der wirksamsten Mittel der Schmerzlinderung überhaupt ist. Dr. Sandner-Kiesling kann das schnell begründen: „Bei einer körperlichen Bewegung werden Glückshormone ausgeschüttet, die ihrerseits die Schmerzleitungen in den Nervenbahnen ausbremsen. Außerdem fühlen wir uns nach dem Training müde und entspannt, das Nervensystem kommt zur Ruhe, das Level von Stresshormonen wird gesenkt und es stellt sich ein allgemeines Gefühl der Zufriedenheit ein, Schmerzempfinden rückt in den Hintergrund.“ Und genau darauf haben wir lange genug gewartet. Los geht’s: Laufen wir dem Autsch davon!


Zum Weiterlesen: