180 Schritte pro Minute gelten als ideale Schrittfrequenz beim Laufen – hört man zumindest oft. Was ist dran an dieser Theorie? Welche Schlüsse können Hobbyläufer daraus ziehen?

Christof Domenig
Christof Domenig


Das ist schon zackig. In der Musik sind 180 Beats pro Minute, drei pro Sekunde, eindeutig auf der schnellen Seite. Manche Läufer-Playlists im Internet werden nach dem 180er-Beat zusammengestellt, Katy Perrys „Roar“, Papa Roachs „Last Resort“ oder Michael Jacksons „They don’t care about us“ wirft Google als dafür passende Laufsongs aus. Also einfach mal die Laufschuhe anziehen, Kopfhörer aufsetzen und mit den Schritten mittrommeln. Ob man so die Laufstrecke ideal rockt? In Triathlonkreisen zum Beispiel wird Schrittfrequenz 180 manchmal als geradezu mythische Zahl angesehen.  Die Schrittfrequenz (auch „Kadenz“ genannt) ist aber auch deswegen stärker ins Blickfeld gerückt, weil heute fast alle Sportuhren mit Bewegungssensoren ausgestattet sind und den Durchschnittswert nach Laufrunden anzeigen. Eine 180er-Frequenz erreichen nur wenige Hobbyläufer, üblich sind eher 160. Oder noch weniger. Der Schluss, der auch in Trainings-­Apps öfters einprogrammiert ist: Die Schritte seien „zu lang“, es wird zu stark „über die Ferse“ gelaufen, Energie gehe beim Auftritt verloren. Der Laufstil sei insgesamt unökonomisch und der Fersenauftritt ungesund, weil gelenksbelastend. Höchste Zeit, an seiner Schrittfrequenz zu arbeiten. Und sich dem Ziel 180 anzunähern.

Zwei unserer Lauf­experten, Kurt Steinbauer und Stefan Spirk, sehen solche Pauschalempfehlungen durchaus kritisch. Weil sie unzulässig vereinfachen. Die wissenschaftliche Studienlage zur Schrittfrequenz ist jedenfalls widersprüchlich: 180 galt lange als durchschnittliche Anzahl von Bodenberührungen unter Topathleten. Ob das auf Freizeitläufer einfach umzulegen ist, darf hinterfragt werden. Eine noch recht junge finnische Studie hat außerdem festgehalten, dass es auch unter Weltklasseathleten sehr unterschiedliche Schrittfrequenz-Typen gibt. In der Marathon-Weltklasse (Läufer mit Laufzeit unter 2:08 Stunden) reiche das Spektrum von 156 bis zu 187 Schritten pro Minute, zitierte das Magazin „Runner’s World“ aus der finnischen Studie von Eeli Paunonen. Kurt Steinbauer kennt eine weitere interessante Untersuchung: In einem 10.000-m-Rennen mit Weltrekordhalter Kenenisa Bekele wurde festgestellt, dass drei Topleute mit drei deutlich unterschiedlichen Schrittfrequenzen das Rennen bestritten: Einer hochfrequent, einer mit niedriger Kadenz und einer mit mittlerer. Im Finish setzte sich jener Läufer durch, der in der Lage war, sein Tempo über die Schrittfrequenz noch zu beschleunigen – und nicht jener, der schon das gesamte Rennen mit hoher Frequenz bestritten hatte.

Statt die Schrittfrequenz einfach zu erhöhen, sollte es das Ziel von Läufern sein, die Schrittlänge wie auch die Frequenz öfter zu variieren.

Kurze versus lange Schritte
Grundsätzlich gesprochen gibt es mit Schrittlänge und Schrittfrequenz also zwei „Stellschrauben“, um die Laufgeschwindigkeit zu regulieren. Was besser ist – hohe Frequenz und eher kurze Schritte, oder niedrigere Frequenz und eher längere Schritte – das lässt sich pauschal nicht beantworten. Dass Schrittfrequenz 180 jedoch auch bei langsamem Tempo grundsätzlich möglich ist, zeigt sich im Extremen an der japanischen „Slow Jogging“-Bewegung (siehe: www.slowjogging.de). Selbst Laufeinsteiger sollen dabei mit 180 bis 190 Schritten pro Minute laufen – im Geh­tempo und mit Mini-Trippelschritten. „Slow Jogging“ soll einen erhöhten Muskeleinsatz und damit Kalorienverbrauch im Vergleich zum (gleich schnellen) Gehen bringen, bei zugleich extrem geringer Stoßbelastung. „Das stimmt alles schon“, meint Stefan Spirk, „dafür schränkt man sich mit so einem Laufstil in seinem Bewegungsumfang extrem ein. Und eingeschränkte Beweglichkeit erhöht wiederum erst recht die Verletzungsanfälligkeit.“ Den generellen Schluss, kurze Schritte seien besser als lange, weil damit der Fersenauftritt vermieden wird, können Steinbauer und Spirk auch nicht unterschreiben: „Nachdem beim Fersenauftritt in einer dynamischen Laufbewegung das Bein schon in der Rückwärtsbewegung ist, ist die Stoßbelastung bei Weitem nicht so groß, wie es oft dargestellt wird. Auch das gern gebrachte Argument des Energieverlusts durch den ‚bremsenden‘ Fersenaufsatz ist damit nicht haltbar.

Bewiesen ist vielmehr, dass die Verletzungsgefahr höher ist, wenn man sehr hochfrequent über den Vorfuß läuft“, sagt Steinbauer. Nicht umsonst habe Haile Gebrselassie beim Wechsel vom 10.000-m-Bahnlauf zum Marathon vom Vorfußlaufen auf einen „abrollenden“ Stil umgelernt. Andererseits gebe es natürlich auch Läufer, die mit zu langen Schritten (und daher zu geringer Frequenz) laufen und damit ihrem Körper hohe Stoßbelastungen zumuten. Eine Schrittfrequenz von 160 sei wohl als unterer Bereich, der noch empfohlen werden kann, anzusehen, sagt Steinbauer. So wie 195 wohl eine Obergrenze sei, über der ein Laufstil im Dauerlauf zu energieraubend werde. Aber eben nicht pauschal. Die Lauftechnik müsste beachtet werden, der muskuläre Zustand sowie jener des Bindegewebes und etliche weitere Faktoren. Wenn die Uhr einem Hobbyläufer nach dem Long Jog eine Schrittfrequenz von 155 bescheinige und dieser seit vielen Jahren beschwerdefrei laufe, dann müsse sich dieser keine akuten Sorgen wegen zu hoher Stoßkräfte machen. Was sich stattdessen empfehlen lasse: In einem Laufseminar mit einem qualifizierten Trainer den Laufstil im Gesamten anschauen und danach bei Bedarf an einer Verbesserung arbeiten. Wenn nötig, auch der Schrittfrequenz.

Variation gefragt
Bei all dem lässt sich dennoch eines auch ganz allgemeingültig festhalten: Mit seiner Schrittfrequenz ebenso wie mit seiner Schrittlänge zu experimentieren und beides im Training öfters zu variieren, zahlt sich für jeden Läufer aus. Unabhängig von der Leistungsklasse. Das Schlüsselwort heißt eben: Variation. „Statt die Schrittfrequenz einfach zu erhöhen, sollte es Ziel von Läufern sein, sowohl die Schrittlänge als auch die Frequenz zu variieren – und das dann auch jederzeit abrufen zu können“, bilanziert Steinbauer. Wie man dorthin kommen kann, lest ihr im Kasten. Die Praxis vieler Hobbysportler zeigt übrigens, dass bei schnellerem Lauftempo automatisch auch die Schrittfrequenz mit ansteigt. Weil für eine Tempoerhöhung über längere Schritte zuerst die muskulären Voraussetzungen gegeben sein müssen und eine Tempobeschleunigung über die Frequenz grundsätzlich leichterfällt. Letztlich gilt wie stets im Sport: Abwechslung hilft, weil man so unterschiedliche Strukuren und Muskelgruppen erreicht und ganz generell den Körper auf unterschiedliche Art und Weise belastet. Weil sie ständig neue Trainingsreize bietet, Läufer vielseitiger macht und die individuellen Möglichkeiten erweitert. Jede Form von Gleichförmigkeit stumpft ab und verhindert ab einem gewissen Punkt den Trainingsfortschritt. Und das gilt auch so bei der Schrittfrequenz: Abwechslung ist gefragt – statt immer nur 160 oder auch „nur“ 180.

Trainings-­Tipps
Mit Sportuhren lässt sich die Schrittfrequenz heute einfach messen, sonst kann man auch so vorgehen: Dreimal eine Minute auf einer ebenen Strecke laufen und die Zahl der Auftritte mitzählen. Mit dem ermittelten Durchschnittswert hat man einen passablen Anhaltspunkt. Um seinen Laufstil auf eine höhere Schrittfrequenz umzustellen, empfiehlt Kurt Steinbauer, zunächst auf die Laufbahn zu gehen und zu versuchen, 1000-m-Läufe mit einer höheren Frequenz zu bestreiten. Selbst wenn das Lauftempo dabei nicht über dem Gewohnten liegt, wird die körperliche Belastung zunächst erhöht sein: „Man verlässt seine Komfortzone“, sagt Stefan Spirk – doch auf Sicht bringt jeder Ausbruch aus den „eingefahrenen“ Mustern Vorteile.

Durchs Laufen im Gelände statt auf der Straße erhöht sich auch meist bereits die Schrittfrequenz. Und auch mit Musik mit 180 bpm zu laufen, kann hilfreich sein.  Um eine bessere Laufleistung zu erreichen, sollte aber auch eine Schrittlängen­entwicklung in Betracht gezogen werden. Das funktioniert über muskuläre Entwicklung, aber auch Technikübungen wie den Sprunglauf. Nur zur Veranschaulichung, welches Potenzial in der Schrittlänge steckt: Weltklassemarathonläufer unterscheiden sich von Hobbyathleten in erster Linie durch ihre 1,80 bis 2 Meter langen „fliegenden“ Schritte ...

Dem Mythos auf der Spur
Mag. Stefan Spirk

ist Sportwissenschafter und Leistungsdiagnostiker sowie Athletik- und Volleyballtrainer in Graz.

Web: www.sportchirurgieplus.at