Dass der Bergsport für immer mehr Menschen zum wichtigen Ausgleichsventil wird, um in unserer Hektomatik-Welt Druck los werden zu können, ist ja einer der Gründe, warum Wandern und Co. so boomen. Die Medizin marschiert mittlerweile auch mit – und setzt den Bergsport gezielt als Therapieform ein. In doppelter Ausführung: Wandern als Psychotherapie und Klettern als Bewegungstherapie. Wir haben uns beide Methoden näher angesehen.
Wandern als Psychotherapie
Eine neue Studie der Salzburger Landeskliniken (SALK) „Übern Berg“ belegt schwarz auf weiß, dass Wandern bei depressiven Störungen hilft. An dieser Studie haben 20 langjährige Patienten mit Suizidversuch der Abteilung Psychotherapie der Christian-Doppler-Klinik (CDK) in Salzburg teilgenommen. In zwei Gruppen wurde je neun Wochen gewandert und neun Wochen wie gewohnt therapiert. „Unser Ziel war es, unsere Patienten durch die körperliche Aktivität beim Bergwandern für den Alltag seelisch und körperlich zu stärken. Diese Erfolge sollen ihnen Mut und Hoffnung für die Bewältigung des Alltags geben“, sagt Reinhold Fartacek, der ärztliche Direktor der CDK und Leiter der Suizidprävention.
Ein Team rund um Studienleiter und Sportwissenschafter Dr. Josef Sturm hat die empfundenen Veränderungen der Hoffnungslosigkeit und Depressivität sowie die Ausdauerleistungsfähigkeit gemessen. In allen drei Parametern waren Verbesserungen deutlich sichtbar. Am Ende des Wanderprogramms konnten Selbstwert und Schlafqualität verbessert, sowie Angst und Borderlinesymptome reduziert werden. Die Studienteilnehmer berichteten über mehr spürbare Freude und weniger Ängstlichkeit.
Christine H. ist seit zehn Jahren wegen Depressionen in Behandlung. Sie wandert gern in den österreichischen Bergen und plant, bald den zweiten Teil des Jakobwegs zu gehen – weil sie jetzt weiß, wie sehr Wandern sie beflügeln kann: „Nachdem ich mein Ziel erreicht habe – meistens ist es ein Gipfel – bin ich unglaublich stolz. Und dann bin ich von mir selbst überrascht, was ich schaffen kann.“ Das Gefühl, sich zu wenig zuzutrauen, kennt sie aber trotzdem und muss sich deshalb oft stark zum Wandern überwinden: „Die Angst, belächelt zu werden, weil man nicht fit ist oder etwas nicht schafft, ist groß.“
Den Weitblick erleben
Schon gesunden Menschen kostet es oftmals einiges an Überwindung, sich zu bewegen. Suizidpatienten sporteln dementsprechend noch einmal weniger. An dieser Wanderstudie haben die ausgewählten Patienten hingegen nahezu lückenlos teilgenommen, diese Art der Bewegung akzeptiert und gern ausgeübt. Josef Sturm kennt auch die Magie, die in der Bewegungsform Wandern steckt: „Wandern steht für Zeit nehmen,für Langsamkeit und Natur. Diese Art der Bewegung verfügt somit auch über sehr viel Symbolkraft.“
Demnach spielen auch die räumliche Umgebung und der Mythos dieser Sportart eine große Rolle, um als Patient vom Wandern profitieren zu können. „Kurz gesagt: Die Patienten können endlich wieder einmal den Weitblick erleben“, sagt Dr. Sturm.
Dieser Weitblick ist es auch, der Christine hin zur Energiequelle Berg zieht: „Diese Monotonie des ,Einen Fuß-vor-den-anderen-setzens‘ regt zum Denken an. Ich hatte auch am Jakobsweg oft das Gefühl, dass meine Gedanken frei sind und ich ihnen auch freien Lauf lassen kann.“ Und Christine weiß nun auch, dass es sich lohnt: „Das Gefühl am Ende, so stolz auf die eigene Leistung zu sein, hält meist den ganzen Tag lang an, oft auch noch den nächsten Tag – und das gibt mir extra Kraft.“
Angst vor Überforderung
Nicht bei allen psychiatrischen Erkrankungen hilft Wandern. „Wir mussten sehr sensibel sein und darauf Acht geben, dass wir die Patienten nicht überfordern“, bestätigt Sturm. Versagensängste seien in einer Therapie kontraproduktiv, weiß auch Christine: „Währen des Wanderns habe ich öfters das Gefühl, zu langsam zu sein oder eventuelle Mitwanderer aufzuhalten, einzubremsen. Das bereitet mir gleich ein schlechtes Gewissen.“ Auch bemerkte Sturm, dass Wandern als Therapie immer nur unter Anleitung und mit Betreuung funktioniere: „Patienten mit depressiven Störungen brauchen Begleitung, sonst mangelt es rasch wieder an Motivation und Umsetzungskraft.“
Christine kennt dieses Problem der Überwindung, und ist deshalb am Berg gern in Gesellschaft: „Ich mag die Geselligkeit, die bei anspruchsvolleren Abschnitten von der Anstrengung ablenkt. Bei einer Pilgerreise ist das Schöne, dass man immer wieder Leute trifft und sich in Gesellschaft begeben kann, wann immer man möchte. Und dann trennen sich wieder die Wege, man wandert allein weiter – das ist der perfekte Kompromiss.“
Klettern als Bewegungstherapie
Hochgreifen, mit den Armen hochziehen, mit den Beinen hochdrücken: All das sind die Bewegungen, die schon ein Kind macht, um in seiner Entwicklung voranzukommen und letztendlich, um stehen zu können. Es sind seine ersten, ganz automatischen Kletterbewegungen. Mit Hilfe des Kletterns entwickeln sich außerdem Steuerungsprogramme, die für die ökonomische Koordination von Muskelketten im menschlichen Körper verantwortlich sind, einen reibungslosen und effizienten Bewegungsablauf, gewährleisten. Klettern stellt somit ein Basismuster der menschlichen Motorik dar.
Schmerzhaft wird es später, im Erwachsenenalter, wenn durch Verletzungen oder chronische Schmerzen diese Steuerungsprogramme gestört werden oder gar ganz ausfallen, denn dann kommt es zu Fehl- und Überbelastungen. Der Bewegungsablauf des gesamten Körpers wird beeinträchtigt.
Genau an diesem Punkt setzt das Klettern als Therapie an. „Ziel des therapeutischen Kletterns“, sagt Martina Glaser, Klettertherapeutin im Medizinzentrum Alserstraße (mza) in Wien, „ist es, gestörte Bewegungsmuster zu reorganisieren und zu optimieren, um Beschwerden zu lindern und langfristig vollständig zu beseitigen. Betroffene Patienten lernen dabei, ihre Muskulatur wieder ökonomisch einzusetzen. Weitere Fehl- und Überbelastungen im Körper werden vermieden und ursprüngliche funktionelle Steuerungsprogramme wieder gefördert.
Das macht die Klettertherapie zu einem sehr vielseitig einsetzbaren Konzept, von dem Patienten aus dem orthopädischen und traumatologischen Bereich mit Beschwerden oder Verletzungen des Rückens, der Schulter, Hüfte oder des Knies ebenso profitieren, wie Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel MS, Schlaganfall oder Querschnittslähmung.
Völlig sichere Therapie
Ein großer Vorteil der Klettertherapie ist die leichte Anpassungsfähigkeit an den jeweiligen Patienten. Die Griffe und Tritte an der Kletterwand sind von unterschiedlicher Größe, so können die Therapiebedingungen ideal an Voraussetzungen wie Größe, Alter, Bewegungseinschränkungen, Kraft usw. des Patienten angepasst werden. Und da auch keine Absturzgefahr besteht, ist die Klettertherapie auch eine absolut sichere Behandlungsform.
„Egal, ob jung oder alt, sportlich oder nicht, mit oder ohne Handicap – die Klettertherapie holt jeden dort ab, wo er momentan steht“, sagt Klettertherapeutin Martina Glaser. Heißt: Jedem Menschen ab etwa vier Jahren bis hinauf ins hohe Alter steht die Klettertherapie zur Verfügung, und ist auch eine optimale Ergänzung zu anderen Therapieformen wie Physio-, Ergo- und Osteopathie. „Unabhängig von Kondition und Verfassung bietet die Klettertherapie jedem eine Chance, seine Beschwerden selbst in die Hand zu nehmen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.“
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