Wohin sich Mountainbiken entwickelt? Wir haben leider keine Glaskugel in der Redaktion. Aber wir können euch zumindest erzählen, wie euer liebster Geländeradsport seinen Ursprung nahm.

Lukas Schnitzer
Lukas Schnitzer


Glaubt man dem „Common Sense“, so lässt sich die Geburtsstunde des Mountainbikens irgendwann in die späten 1960er- oder frühen 1970er-Jahre zurückverfolgen. Einige kalifornische Hippies stürzten sich damals im Marin County auf umgerüsteten Beach Cruisern aus den 1930ern, den sogenannten „Klunker Bikes“, über Forststraßen und Wanderwege ins Tal. Hoch wurde mangels Gangschaltung geschoben, bergab mit kaum dosierbarer und wenig standfester Rücktrittbremse riskiert und abends – sofern am Weg durch die Berge nicht anderswo Bruch an Mensch oder Material entstanden war – der ausgelutschten Rücktrittbremse neues Leben eingehaucht. Danach verliert sich die Spur zum modernen Mountainbiken etwas im Nebel des Marketings. Fakt ist aber: Die Ursprünge des Mountainbikens gehen tatsächlich weitaus tiefer in die Geschichte. In der 200-jährigen Erfolgsstory des Fahrrads gibt es schließlich noch nicht allzu lange asphaltierte Straßen. Wer in den Anfängen in hügeligem oder bergigem Gelände unterwegs war, wurde auf Schotterwegen, querfeldein und über Trampelpfade zwangsläufig zum „Mountainbiker“ – er oder sie wusste bloß noch nichts davon.

Einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit gefällig? Da wäre etwa der amerikanische 25th Infantry Bicycle Corps, ein Regiment, dessen Mitglieder auf für den Transport von Ausrüstung über raues Gelände umgerüsteten Fahrrädern unterwegs waren. Im August 1896, so ist es dokumentiert, brach das Regiment auf, um von Missoula, Montana, in den Yellowstone-National Park und zurück zu fahren. Eine auch heute noch traumhafte Route mit dem Ziel, die Eignung des Fahrrads für militärische Zwecke in gebirgigen Gegenden auszuloten.

Entgegen weitläufigen Marketing-Botschaften hatte aber auch Europa mehr an „Geländeradsport“ zu bieten als „nur“ das aus dem Rennradfahren entstandene Querfeldein. Was die Jungen Wilden des Velo Cross Club Parisien (VCCP) zwischen 1951 und 1956 vor den Toren von Paris auf ihren französischen 650b-Fahrrädern veranstalteten, kam schon verdächtig nah an das heutige moderne Mountainbiken heran. Die Räder wurden schon damals mit viel technischem Geschick ans Gelände adaptiert.

Der Fahrradverrückte John Finley Scott, einer von vielen, die ihre Räder schon früh geländetauglich machten, adaptierte 1953 einen Schwinn-World-Diamantrahmen. Sein „Woodsie Bike“ rüstete er mit breiten Ballonreifen, einem flachen und geraden Lenker, Cantilever-­Bremsen und Gangschaltung unwissentlich zum Mountainbike hoch – zahlreiche andere „Erfinder“ hat die Geschichte wohl einfach übersehen oder längst vergessen.

Im Marin County, so scheint es, nahm das Mountainbiken rund um die „Klunker“-Szene aber schließlich massiv an Fahrt auf. Erste Rennen wurden organisiert und mehr und mehr Fahrer schlossen sich der Bewegung an. Mit der Masse kam auch die Innovation – erste Rahmen wurden speziell für den Einsatz­zweck gebaut, der Sport bekam mediale Aufmerksamkeit. Bis hierher war Mountainbiken unschuldig, unbeschwert – ein Sport für Hippies. Als Namen wie Mike Sinyard (Specialized-Gründer), Joe Breeze, Rahmenbauer-Legende Tom Ritchey, der exzentrische Gary Fisher und der heimliche deutsche Innovator Wolfgang Renner (Centurion) ins Spiel kamen, wurde der Sport nach und nach kommerziell. Mit Rädern wie etwa dem legendären Specialized Stumpjumper (1981) oder dem Centurion Country (1982) waren Mountainbikes, wenn auch in kleinen Stückzahlen, als Serienmodell zu kaufen. Spätestens ab diesem Moment begann eine beispiellose Erfolgsgeschichte.
 

Vom starren MTB zum E-Enduro
Alle Meilensteine am Weg von den starr, also ohne Federelemente, ausgeführten Urvätern hin zu dem, was wir heute in den Läden kaufen können, aufzuzählen, würde unser Format sprengen. Darum einige Eckpunkte im Schnelldurchlauf: Mit der Shimano XT M700 anno 1982 legten die Brüder Yoshizo und Yozo Shimano den Grundstein für eine wahre Benchmark am Schaltungs- und Antriebssektor. Bergauf hatten Mountainbiker mit der ersten Bike-Schaltgruppe nun per Lenkerschalthebel sechs Ritzel und drei Kettenblätter zur Verfügung. Cantilever-Bremsen verdrängten die Rücktrittbremsen. Sechs Jahre später legten die Japaner mit dem ersten Klickpedal eine weitere bahnbrechende Technologie nach.

Ein gewisser Paul Turner diskutierte Ende der 1980er in der Rahmenbauschmiede seines Freundes Keith Bontrager die Idee eines Fullys. Bontrager hatte von Kestrel den Auftrag bekommen, ein MTB-Fully zu entwickeln, Turner sollte bei der Federgabel helfen. Anfangs wurde der Motorsport-Profi noch für seine Motorrad-Technologie belächelt. Als die von ihm erdachte Rock Shox RS-1, eine der ersten MTB-Federgabeln überhaupt, 1990 in Serie ging, war sie plötzlich heiß begehrt. Mit fünf Zentimetern Federweg waren sechs Jahre später über eine Million Gabeln verkauft. Und auch Bontragers Projekt, unterstützt von Turners­ Federgabel, sollte seine Spuren hinterlassen. Ergebnis der Arbeit war das Kestrel Nitro – Vorreiter unter den Fullys und eine wahre Revolution. Ab 1988 musste man Komfort nicht mehr in butterweichen, gemufften Aluminium-Rahmen und niedrigem Reifenluftdruck suchen. Plötzlich konnte man vollgefedert auf die Trails.

Und auch die Scheibenbremse hat ihren Ursprung im Kopf eines Motorsportlers. Der Tscheche Bob Sticha, Mastermind hinter Skurrilitäten wie allradgetriebenen Fahrrädern, aber auch Elastomer-Federgabeln, brachte 1990 die Scheibenbremse vom Motorrad ans MTB. Damals noch mit selbst entworfener Gabel für die Bremsaufnahme, schraubte sich Weltmeister Albert Iten die mechanische Wunderwaffe an sein Rad, Bob Sticha selbst raste damit medienwirksam durch eine Bobbahn und Hope kaufte ihm die „seine“ Bremse zur Serienfertigung ab.
 

Klunker? Im Marin County adaptierten die Jungen Wilden ihre Beach Cruiser für wilde Downhills über Forststraßen.

Modern Biking
Ein schneller Sprung ins Jahr 2023, und wir bewegen uns in einer gänzlich anderen Welt. Mountainbikes haben sich in unzählige Kategorien, allesamt Spezialisten für ihren Einsatzzweck, aufgespalten, sind mächtiger Wirtschaftssektor, Standbein für den Tourismus, heiß diskutierter Dorn im Auge so mancher heimischen Lobby und beliebtes Aushängeschild des Freizeitsports. Mit großer Stückzahl und entsprechendem finanziellen Hintergrund wurden Fertigungsprozesse auf ungeahnte Niveaus gehoben, Carbon und andere Werkstoffe hielten Einzug und Pedelecs, die weitläufig als E-MTBs bezeichneten Räder mit eingebautem Rückenwind, sind gekommen, um zu bleiben. Moderne Geometrien sorgen für ungeahnte Vorteile im Handling, machen Mountainbiker zu besseren Mountainbikern. E-Bikes ist ihre Elektronik kaum mehr anzusehen. Voluminöse Reifen, Tubeless-Setups und niedriger Reifendruck sorgen für ungeahnte Traktion. Aber mehr zur Gegenwart in unserem diesjährigen Bike-Guide.