Sportwissenschafter Dr. Gerhard Zallinger, beim ÖFB für die Fitness der Nationalspieler zuständig, über zu viel Belastung, die Wichtigkeit von Regeneration und welche Fehler ein „Hobby-Leistungssportler“ auf keinen Fall machen sollte. Und er erklärt, worauf es bei der Vorbereitung auf die EURO­ ankommt.

Markus Geisler

Seit Marcel Koller 2011 das Teamchef­amt übernahm, sind Sie beim ÖFB als Athletikcoach für die Fitness der A-Teamspieler zuständig. Könnte man Ihr erstes Training von damals heute noch genauso machen oder hat sich der Bereich in den vergangenen zehn Jahren stark verändert?
Es hat sich nicht radikal verändert. Es geht bei uns nicht darum, die Fitness der Spieler zu entwickeln, sondern Profis, die mit ganz unterschiedlichen Belastungen zu uns kommen, matchfit zu machen, ihr Level zu halten. Was sich sehr wohl verändert hat, ist die Planung der UEFA. Inzwischen bestreiten wir ausschließlich Lehrgänge mit drei Spielen, dadurch schrumpft die Zeit des Trainings auf ein Minimum.

Stichwort: Überbelastung.
Die Spielpläne sind jetzt, auch durch Corona bedingt, am absoluten Limit. Viele unserer Spieler haben innerhalb von acht Tagen drei Spielbelastungen. Mehr verträgt es nicht. Mit ausreichend großen Kadern, Rotation und einer guten Be- und Entlastungsplanung ist das Pensum noch machbar, die Betonung liegt auf noch. Schauen Sie sich nur die Situation im kommenden Sommer an.

Am absoluten Limit: ÖFB-Fitnesstrainer Zallinger über die zu große Belastung

Sie meinen, wenn die EURO – hoffentlich – vor der Tür steht. 
Die Spieler kommen aus ihrer vollen Ligabelastung, haben bis zum Start der Vorbereitung gerade einmal vier Tage Pause. Bei manchen kommen noch der Cup und internationale Bewerbe dazu. Da muss ich sagen: Das liegt schon knapp über dem Limit!

Es gibt bei Teamsportarten den Trend zur Individualisierung, das Ausrichten des Trainings auf die  Belastung des Einzelnen. Wie kompliziert ist dieser Spagat bei einem 23-Mann-Kader?
Das ist die große Challenge. Mein Leitsatz ist schon lange: Fußball ist ein Individualsport und ein Mannschaftsspiel. Die Herausforderung ist, das Training so weit wie möglich zu individualisieren, dann aber die Mannschaft so lange wie notwendig zusammenzuführen, um den taktischen Verbund hinzubekommen.

Sie haben mit Marcel Koller und Franco Foda zwei Teamchefs erlebt. Haben beide unterschiedliche Herangehensweisen an die Fitnessfrage?
Nein, und doch ist jeder Trainingstag anders. Das Trainerteam plant die taktischen Inhalte, daraus ergibt sich automatisch eine Beanspruchung auf der körperlichen Seite. Wir schauen dann, dass die Belastung für diesen Tag optimal passt. 

Zur Trainingssteuerung gehört auch die Regeneration. Ein großes Thema bei Lehrgängen?
Vielleicht das größte. Ein Training, nach dem man nicht regeneriert, macht keinen Sinn. Zur ganzen Medaille gehört auch die Seite, aus einem Training fast vollständig regeneriert herauszukommen.

Dann nehmen Sie uns doch mal mit. Die Vorstellung bei vielen ist ja die, dass die Burschen trainieren, essen und dann Play Station spielen. Wie ist es wirklich?
Es gibt genaue Vorgaben, sowohl nach jedem Training als auch nach jedem Spiel werden alle Faktoren abgedeckt. Es kann durchaus sein, dass jemand auch mal Play Station spielt, das kann für einen jungen Mann in gewissen Situationen eine sinnvolle Regenerationsmaßnahme sein. Aber klar, es gibt signifikante und entscheidendere Methoden. Wir sorgen dafür, dass diese a) bereitstehen und b) von den Spielern genutzt werden.

Von was konkret reden wir? Eistonne? Sauna?
Das kann sowohl als auch sein und hängt von mehreren Faktoren ab. Erstens: Wie war die Belastung? Zweitens: Was ist der Spieler gewohnt? Drittens: Wie weit ist es noch zum Spiel? Das geht von der Ernährung, über den Schlaf bis zu unmittelbaren Methoden wie Mobilisationseinheiten nach dem Training. Wenn ein Spieler gerne in die Sauna geht, kann das sinnvoll sein – aber nur, wenn das Spiel noch ein paar Tage entfernt ist, weil sonst der Flüssigkeitsverlust kontraproduktiv ist.

Regeln, die auch für einen ambitionierten Hobbysportler gelten, oder?
Absolut. Wenn ein Training stattfindet, findet immer auch Ermüdung statt. Das nächste Training ist nur dann sinnvoll, wenn die Ermüdung halbwegs aus dem Organismus draußen ist. Der Vorteil, den ein Profisportler hat, ist der Faktor Zeit. Er trainiert zwar mehr, hat aber auch mehr Zeit, Regenerationsmaßnahmen bewusst und zum richtigen Zeitpunkt zu setzen. Das ist bei einem „Hobby-Leistungssportler“, wie ich ihn nenne, viel schwerer in die Alltagsbeanspruchung zu integrieren. Gibt er dem Körper zu wenig Zeit zur Erholung, kann das zu chronischer Ermüdung führen, die weitere Leistungssteigerungen erschwert oder gar verhindert. 

Das nächste Training ist nur dann sinnvoll, wenn die Ermüdung halbwegs aus dem Organismus draußen ist.

ÖFB-Fitnesstrainer Zallinger

Sie selbst sind Spezialist für vegetatives Training, was ja zum Bereich der Regeneration gehört.
Das ist Regeneration in sehr großem Stil, da es den gesamten Organismus entlastet.

Erklären Sie doch mal möglichst kurz, was es mit dem vegetativen Training auf sich hat.
Die Methode geht davon aus, dass wir als Organismus ein fühlendes, emotionales Wesen sind und nicht nur ein mechanischer Bewegungsapparat. Unsere emotionale Basis trägt viel dazu bei, wie verschiedene Prozesse im Organismus laufen, und ist zuständig, wie Muskelspannung aufgebaut wird. Je nachdem, wie Erfahrungen, teils schon frühkindliche, auf den Organismus eingewirkt haben, merkt man, dass die Leistungsfähigkeit hie und da nicht das volle Potenzial ausschöpft. Das kann durch vegetatives Training aufgelöst werden.

Das Ganze ohne Berührung und Manipulation.
Es funktioniert über Atmung, leichte Bewegungen, viel Ruhe, bei der der Organismus zu einer Art Selbstregulation kommt. Gefühlt ist es aber durchaus intensiv, wenn Spannungen gelöst werden. 

Wenden Sie das bei der Nationalmannschaft auch an?
Das kann auf Wunsch oder in Absprache durchaus stattfinden, gehört aber nicht zu meinen unmittelbaren Aufgaben dort. Es gibt Spieler, die das nachfragen, manchmal machen wir es auch in Kleingruppen nach einem Spiel. 

Blicken wir zum Schluss in Richtung EURO. Wie herausfordernd wird die Aufgabe, die stark und verschieden belasteten Spieler auf ihr Fitness-­Maximum zu bekommen?
Das ist die Kunst! Und es ist ja nicht nur eine körperliche Frage. Wir müssen einen Einklang schaffen aus einem hohen emotionalen Moment auf der einen und einem gut ausbalancierten körperlichen Moment auf der anderen Seite. Das ist der Schlüssel. Da braucht es manchmal den Mut zur Lücke, da man sich Frische und Fitness in so kurzer Zeit einfach nicht komplett antrainieren kann.

Sie waren 2016 in Frankreich auch schon dabei. Gibt es auf diesem Level bei einem Turnier signifikante Unterschiede, was den Fitnesslevel der einzelnen Mannschaften angeht?
Nein. Vieles ergibt sich ja auch aus dem Spielverlauf heraus. Fußball ist, konditionell gesehen, keine Maximierungsaufgabe, sondern eine Ökonomisierungsaufgabe. Wenn du mit ganz wenig Aufwand viel Erfolg erzielst, ist es auch recht. Wenn ich an 2016 zurückdenke: In unserer letzten von sechs Halbzeiten, gegen Island, konnten wir körperlich nochmal richtig zulegen, was sich leider nicht im Ergebnis niedergeschlagen hat. Ab der 70. Minute war Island stehend k.o. Trotzdem haben wir es nicht geschafft, das entscheidende Tor zu erzielen und damit die Gruppenphase zu überstehen. Daran sieht man, wie schwierig es ist, Ergebnisse auf ein ­Einzelkriterium wie körperliche Fitness zurückzuführen.