Ich lag in Lienz mit aufgeschlagenem Unterarm und schmerzendem Oberschenkel im Dreck: Nicht einmal 24 ­Stunden vor dem Dolomitenmann hat es mich in einer mittelschweren Passage kopfüber um einen Baum gewickelt.

von Georg Michl


Mein Bike lag zwei Meter weiter unten und das Ego war sogar bis ins Tal geschlittert. Es war der absolute Tiefpunkt in meiner Vorbereitung. Die Höchststrafe für das Selbstbewusstsein sollte aber erst fünf Minuten später kommen, als eine junge Dame mit Turnschuhen und E-Bike die Passage problemlos und lachend gemeistert hat, als wäre es ein Stück auf dem Weg zum sonntäglichen Brunch. Ich war völlig blockiert, habe die Stelle noch einmal versucht und bin prompt wieder abgestiegen. Obwohl ich weiß, dass man dort hinfährt, wo man hinschaut, konnte ich meinen Blick von dem Loch zwischen den Wurzeln nicht abwenden. Es zog zuerst meine Augen und dann mein Vorderrad magisch an. Da wusste ich, dass ich an dieser Stelle im Bewerb tragen werde, egal, wie viele Zuseher da stehen und schreien. Wenigstens da bin ich konsequent. Im Nachhinein waren diese Stürze wohl das, was ich gebraucht habe, um im Rennen nicht zu übertreiben – aber in diesem Moment war es einfach scheiße. Die Nacht vor dem Rennen war kurz und ich habe etwa 14 Mal vor meinem Weg zum Stadion Reifendruck und Ausrüstung kontrolliert und dabei Musik gehört – meine Art, mit dem Druck umzugehen. Ich trage mein Herz auf der Zunge, aber ein paar Stunden vor dem Rennen bin ich ein Kandidat für die Couch. Der Anblick der austrainierten Athleten hob die Stimmung nicht gerade. Was mache ich hier zwischen Weltmeistern und Olympiateilnehmern?

DIE VERNUNFT SAGT "165"
Bei aller Nervosität war mir eines immer bewusst: Ist man gewichtstechnisch eher beim Organisator Werner Grissmann und nicht beim Dominator Kristian Hynek angesiedelt, darf man in die Steigung nicht hineinkleschen wie Chris Froome in die Alpen. Vernunft war trotz der explosiven Mischung aus Euphorie, Angst und Nervosität angesagt und diese Vernunft manifestierte sich in einer Zahl: 165. Rund um diesen Wert wollte ich meinen Puls halten, egal, wie steil oder flach es auch sein mag und vor allem egal, wie schnell die anderen an mir vorbeifahren würden. Sonst ist der Stecker bald draußen und das sollte bei insgesamt 1600 Höhenmetern tunlichst vermieden werden. Ich blieb standhaft, kontrollierte gefühlt alle zehn Sekunden meinen Puls und hielt mich an die selbst auferlegte Vorgabe und wurde belohnt: Nach knapp 400 Höhenmetern habe ich die ersten überholt, die schon ausgesehen haben wie ein Uhu nach dem Waldbrand. Noch 1100 Höhenmeter ohne Unterbrechung und dosiert kurbelte ich mich über die Forstwege und die Serpentinen hinauf. „Trinken, vergiss nicht aufs Trinken“, redete ich mir im Geist ständig vor. Eine Trinkflasche hatte ich auf den Stufen in der Zwischenabfahrt verloren, aber die zweite war noch voll. Dann kam die Tragepassage: Gel rein, Rad auf den Rücken und nur nicht hinaufschauen. Schon beim Absteigen fuhr der erste Krampf ein. Fein – ein kurzer Schrei, ausdrücken und weiter das ­Giant zum Hochsteinkreuz hinauf und der Abfahrt entgegen tragen.

Nach zwei Stunden ging ich in die Abfahrt – die besten waren zu diesem Zeitpunkt wohl schon geduscht, ich roch nach Schweiß, Gels und Angst. Eine Abfahrt mit einem durchschnittlichen Gefälle von 26 Prozent über 1400 Höhenmeter eine Skipiste hinunter lag vor mir. Zwei Wochen vor dem Rennen habe ich mein Erspartes noch in eine Vier-Kolben-Downhill-Bremsanlage investiert. Besser 450 Euro für Bremsbacken als 4300 für Zahnimplantate, habe ich mir beim Zahlen gedacht. Und das Geld war in der Shimano „Saint“ gut investiert – passend, auf eine Bremse zu setzen, die „Heilige“ heißt, dachte ich mir. Bei aller Heiligkeit kreischten und schrien die Bremsen bergab nach ein paar Minuten schlimmer als es die sagenumwobenen Sirenen wohl auf Speed tun würden.

DANKE, SCHUTZENGEL
Doch am Ende wurde die „Saint“ zu meinem Schutzengel und ich kam heil unten an. Die Unterarme schmerzten vom Ziehen der Bremsen und den unzähligen Schlägen, und die Beine krampften auf den letzten Steigungen zur Übergabe munter weiter. Völlig ausgepowert und mit Puls 185 habe ich an meinen Paddler im Staffelteam übergeben und war in meinem Leben noch nie so froh, angekommen zu sein. In der Einzelwertung war es der 99. Rang unter 124 Bikern im Ziel – immerhin bei der Platzierung zweistellig. Der Dolomitenmann war für mich erledigt, doch unser Team war noch nicht im Ziel, und wir sollten es an diesem Nachmittag auch nicht sehen. Unser Paddler hat die Drau vorzeitig verlassen. Es war für ihn an diesem Tag zu viel und dennoch war er in Lienz mein großer Held, denn er hat sich dieser riesigen Herausforderung gestellt. Er hat sich nach vielen Jahren ohne Training (im Jahr 1993 nahm er zum letzten Mal am Dolomitenmann teil) wieder ins Boot gesetzt, sich geschunden und gequält und wieder die Liebe zum Sport entdeckt. Das ist mehr wert als jede Urkunde.

Georg Michl / Bild: KK

Der Bike-Neuling

GEORG MICHL ist ­Sportredakteur bei der Kleinen Zeitung in Graz und begeisterter Freizeitsportler. 2017 hat sich der Ironman-erprobte Mountainbike-Neuling ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Die Teilnahme am Dolomitenmann im September. Von seinem Weg dorthin berichtet er in jeder SPORTaktiv-Ausgabe.

E-Mail: georg.michl@kleinezeitung.at



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