Kenia Insight: Jan Fitschen, selbst Europameister über 10.000 Meter, war dem Geheimnis der besten Langstreckenläufer der Welt auf der Spur.
Es ist ein einmaliger Moment. Normalerweise läuft das nämlich andersherum: Vorneweg die afrikanischen Läufer, hintennach die europäischen Gäste. Es ist eine natürliche Rangordnung im Langstreckenlauf, nicht nur bei internationalen Wettkämpfen, sondern auch schon beim Training. Vor allem, wenn es sich um ein Heimspiel der Kenianer handelt. Iten, 320 Kilometer nordwestlich von Kenias Hauptstadt Nairobi. Der 4000-Einwohner-Ort auf 2400 Meter Höhe gelegen, gilt als uneinnehmbare Festung der besten Langstreckenläufer der Welt. Hier leben und trainieren unzählige Olympiasieger, Weltmeister und Gewinner großer Marathons. Und Jan Fitschen. Auch er kein Langsamer. Fitschen war bis zu seinem Rücktritt 2015 einer der erfolgreichsten Läufer Deutschlands. 28 deutsche Meistertitel von 3000 Meter bis zum Halbmarathon stehen in seiner Bilanz, dazu eine Marathonbestzeit von 2:13,10 Stunden und vor allem der Europameistertitel 2006 über 10.000 Meter nach einem legendären Zielsprint.
DEM GEHEIMNIS AUF DER SPUR
Sieben Mal war Jan Fitschen aus sportlichem Eigeninteresse während seiner aktiven Zeit ab 2007 in Kenia. Er wollte im Rahmen von jeweils mehrwöchigen Trainingscamps die Höhenluft, die Dichte an Spitzenathleten und die besondere Atmosphäre in der Läuferhochburg Iten nutzen, um auch die eigene Leistung weiter nach oben zu treiben und neue Trainingsreize zu setzen. Aus seinen dabei gemachten Erfahrungen und einer ergänzenden Recherchereise destillierte er ein unterhaltsam-informatives Buch über das „Wunderläuferland Kenia". Dafür hat der Deutsche bei seinen kenianischen Sportkollegen gewohnt, mit ihnen trainiert, schluckte denselben Staub des erdigen Untergrunds bei den Morgenläufen. Hat mit ihnen gekocht, das Gleiche wie sie gegessen und seine Haare so kurz geschoren wie sie. Das Ziel der Integrationsbemühungen: dem Erfolgsgeheimnis der schnellsten Langstreckenläufer der Welt auf die Spur zu kommen. „Warum verdammt sind die so schnell?" und „Was können wir – vom Laufanfänger bis zum Profi – uns davon abschauen?" – Fitschen wollte Antworten auf diese beiden Fragen finden.
Sein Schluss: Es ist ein Mix aus vielen Einflussfaktoren, der den Fluss von außergewöhnlich guten Ausdauerläufern aus diesem ostafrikanischen Land nie abreißen lässt. Die Höhenlage ist das eine. Wer auf 2400 Metern Seehöhe aufwächst und dort, auf dem Niveau von Bergstationen in den Skiressorts der Alpen, ständig trainiert, dessen Blut passt sich diesen besonderen Bedingungen automatisch an. Dazu kommen andere anatomische Voraussetzungen. Fitschen belegt das in seinem Buch einfach, aber eindrücklich mit einem simplen Fotovergleich seines Unterschenkels mit dem eines kenianischen Läufers. „Da brauche ich keine wissenschaftlichen Untersuchungen, um zu sehen, dass da was anders ist", schmunzelt der Deutsche.
SCHLAFEN MACHT SCHNELL
Kein Nachteil scheinen auch der stets unebene Untergrund auf den schier endlosen Sandschotterstraßen zu sein, auf denen die Kenianer Morgenläufe, Intervalltrainings und Auslaufrunden absolvieren. So werden bei jedem Schritt die Koordination geschult und die Fußmuskulatur gestärkt. Mindestens ebenso wichtig wie die harten, meist in großen Gruppen abgehaltenen Trainingseinheiten sind die ausgedehnten Ausruhphasen und vor allem ein, im Vergleich zu Europäern, vergleichsweise hohes Schlafpensum. „Über die Wichtigkeit von Regenerationsphasen denken wir leider viel zu selten nach", mahnt Fitschen. „Stattdessen überfordern wir uns neben Job und Familie oft auch noch mit verbissenen Trainings." Kenia dagegen: „Wenn du abends durch kein Fernsehen abgelenkt wirst oder vielleicht nur bedingt elektrisches Licht hast, gehst du zwangsläufig früh schlafen – dafür bist du am nächsten Tag um sechs auch fit für einen Morgenlauf, der meist zum beinharten Ausscheidungsrennen wird", vergleicht Fitschen. Denn ein Erfolgsfaktor ist auch die unbändigbare Motivation, der Schnellste sein zu wollen. Bei den kenianischen Läufern kommt noch ein Antriebsfaktor dazu: Der Druck, zu siegen, ist höher, weil man mit Preisgeldern seine ganze Familie über Monate ernähren kann. Das ostafrikanische Land gehört zwar zu den wirtschaftsstärksten Staaten des Kontinents, das Pro-Kopf-Einkommen liegt aber immer noch bei nur 1200 Euro – pro Jahr.
Entsprechend bescheiden sind die Lebensumstände, entsprechend einfach das Essen – aber damit auch gesünder im Vergleich zum Überangebot an ungesunden Lebensmitteln bei uns. Fleisch kann sich in Kenia niemand leisten und wenn es welches gibt, dann wird es gekocht statt gebraten. Meist gibt es Ugali, einen „Maispamp, der nur aus Kohlehydraten besteht".
Und dann das Training selbst. So richtig nach Plan trainieren nur die Profiteams. Der große Teil läuft nach Gefühl und meist auch ziemlich chaotisch. „Es gibt beispielsweise keine abgemessenen Strecken beziehungsweise haben nicht alle eine GPS-Uhr", sagt Fitschen. Aber generell hätten sie eine ganz tolle Kombination aus sehr konsequent und zielstrebig und einer Lockerheit, die uns leider abgeht", sagt Fitschen: „Ja, sie trainieren viel härter, viel häufiger und ballern wie die Verrückten nach dem Motto „train hard, win easy", aber wenn sie sich nicht gut fühlen, dann machen sie auch mal Pause." Wenn bei uns dagegen einmal ein Training ausfällt, glaube man ja gleich, dass die Welt untergeht." In Kenia ist das anders. Hier gilt: „If you feel good, run fast. If you feel bad, don't run!" Fitschens Fazit: „Wenn man sieht, aus was für einfachen Verhältnissen die Läufer dort kommen, wie sie leben, wie sie aufwachsen und wie sie sich motivieren – diese Eindrücke, die man da mitnimmt, sind fast wertvoller als das Höhentraining", resümiert Fitschen. Man spüre die Faszination, die das Laufen auf sie ausübt. „Und das bringt einen auch selbst weiter."
Der Experte | JAN FITSCHEN, 40 ist ein ehemaliger deutscher Langstreckenläufer. 2006 war er Europameister im 10.000-Meter-Lauf. Fitschen hält Vorträge und Seminare zum Thema Laufen in Theorie und Praxis. |