Das Fahrrad feiert heuer seinen 200. ­Geburtstag. Der Giro d'Italia geht Anfang Mai in die 100. Auflage. Zwei Jubiläen, die ein guter Anlass sind, Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden, und einen Blick auf die lebendige Retro-Rennrad-Szene zu werfen. Was hat's auf sich mit der neuen Lust am alten Rad?

Von Klaus Molidor


Aus einer Notlösung sind Milliarden geworden, aus einer Krise ein Fortbewegungsmittel für jedermann. Anfang des 19. Jahrhunderts ließen Missernten den Preis für Pferdefutter stark ansteigen. Also suchte der deutsche Forstbeamte und Erfinder Karl Freiherr von Drais nach einer Transport­alternative – und entwickelte das erste Fahrrad. 1817 stellte er das hölzerne Vehikel vor. Damals war es noch ein Laufrad ohne Pedale, die kamen erst 1861 dazu. Auch wenn sich die Ernten und die Futterpreise normalisiert haben – der Siegeszug des Fahrrads als Sport- und Spielfahrzeug war nicht mehr aufzuhalten.

Das deutsche Nachrichtenmagazin „Spiegel" adelte die Erfindung von Drais als „erfolgreichste Notlösung aller Zeiten". Längst ist das Fahrrad ein Milliardenprodukt und hat sich vom einfachen Holzgestell zum High-tech-Gerät entwickelt.

Immer mehr Leute entdecken aber auch die alten Räder wieder. Und da vor allem die Rennräder der 1970er- und 1980er-Jahre. Damals waren die Rahmen aus Stahl und nicht aus Alu oder Carbon. Die Füße steckten in Schlaufen mit Lederriemen statt in einem Klickpedal. Geschaltet wurde nicht am Bremshebel, sondern am Unterrohr. Mit feinem Gefühl für die Mechanik statt mit einem „Klick".

STEIGENDE TEILNEHMERZAHLEN
International ist es die L'Eroica, die jeden Herbst Liebhaber alter Stahlrennräder in Scharen in die italienische Toskana zieht. Aber auch in Österreich gibt es eine lebendige Rennszene. Es sind vier namhafte Veranstaltungen, die Radler dazu animieren, sich in Baumwolltrikots zu werfen und auf ihren Stahlrössern über Kopfsteinpflaster, Feldwege und Straßen zu kurbeln. Den Anfang in der Saison macht die Kirschblüten Radklassik am 30. April im oberösterreichischen Eferding. Weiter geht es mit der „In Velo Veritas" im Weinviertel am 11. Juni. Die „Tour d' Alba" am 15. Juli hat Schwarzach in Vorarlberg als Zentrum. Und Mitte September findet die „Styroica" in der Südsteiermark statt.

Alle Events können sich über mangelnde Nachfrage nicht beschweren. Die Styroica ist auf 100 Teilnehmer limitiert – eine Grenze, die seit drei Jahren immer locker erreicht wird. „Wir haben Teilnehmer aus allen Bundesländern, dazu Fahrer aus Deutschland, Tschechien und natürlich Italien", sagt Thomas Possod stolz, einer der Styroica-Veranstalter. Viel mehr Stahlrad-Enthusiasten nimmt die In Velo Veritas im Weinviertel auf. Über 600 Teilnehmer sind jedes Jahr dabei. Aufgeteilt auf Bewerbe über 70, 140 und 210 Kilometer.

Was beide Veranstaltungen eint: Sowohl Styroica-Co-Veranstalter Michael Siebenhofer, als auch Horst Watzl von der In Velo Veritas sind die Mütter aller Klassikradrennen, die „L'Eroica" in der Toskana, selbst gefahren. Und beide wollten danach so etwas auch in Österreich auf die Beine stellen. „Das ist keine Altherrenpartie", stellt Watzl schnell klar. „Selbst die 70 Kilomter spulst du nicht einfach so ab." Denn die Klassikrennen führen keineswegs immer über perfekt asphaltierte Straßen. Wie beim italienischen Vorbild geht es im Weinviertel über Feldwege, Kopfsteinpflaster, Güterwege und die bekannten Kellergassen der Region. „Der Untergrund ist bei uns schon manchmal ziemlich rau", sagt Watzl. „Das ist technisch nicht ganz einfach. Da musst du schon radfahren können."

Video: In Velo Veritas - Trailer 2017


OHNE TRAINING GEHT ES NICHT
Eine Einschätzung, die Hannes Durst teilt. Der Wiener ist seit der ersten In Velo Veritas immer dabei, heuer zum fünften Mal. „Du musst dich auch für die 70 Kilometer ordentlich vorbereiten." Drei Monate vorher fängt der Nachrichtentechniker damit an. „Denn gebummelt wird da keineswegs. Und wer will schon Letzter werden?" Das Flair bei den Klassikrennen ist es, was ihn und viele andere immer wieder kommen lässt. „Im Vorjahr bin ich neben einem Australier gefahren und hab mich gefreut, mit einer Gruppe Italienern mithalten zu können."

Auch wenn er „nur" die 70 Kilometer fährt – anstrengend ist das doch. „Es geht oft über Schotterstraßen und die Hügel sind nicht groß, dafür gibt es keine Serpentinen. Und nach zwei, drei Minuten bergab wartet gleich der nächste Anstieg."

Durst ist ein Purist. Keines seiner acht Räder ist aus Carbon, nur eines aus Alu gefertigt. Der Rest aus Stahl. „Reintreten musst du ohnehin da wie dort", lacht Durst. Da bleibt er gleich bei den Klassikern und freut sich, wenn er ein Modell findet, das er dann wieder in den Orginialzustand „rückbauen" kann. „Man liest sich ein und tüftelt." Für ihn gehört auch das Trikot im Retro-Look dazu. „Ich hab ein gestricktes aus Merinowolle und ein altes ‚Flandria', das ich in England bestellt habe." Bei der In Velo Veritas fährt er sein erstes Rad, ein „RIH Super" aus den 1970er-Jahren.

KINDHEITSTRÄUME
Aber woher kommt sie eigentlich, diese Lust am Alten? „Aus der Kindheit", sagt Styroica-Veranstalter Possod. „Für viele sind die Räder Erinnerungen an ihre ersten Renner." Das bestätigt auch Watzl. „Aber wir haben auch viele Junge dabei, die es einfach cool finden, mit Stahlrädern zu fahren. In Großstädten ist das ja teilweise sehr in, mit solchen Rädern herumzukurven."

Wie schaut es mit Komfort aus? „In diesem Punkt werden Stahlräder unterschätzt. Sie dämpfen ganz anders als Carbon-Räder. Und richtig gutes Material war auch damals schon sehr ausgereift", erklärt Watzl. „Und über Stil brauchen wir gar nicht streiten", lacht er. Und hat Recht: Wer einen Blick auf den herrlichen Zahnkranz eines Colnago aus den 1960er-Jahren wirft, vor einem alten Bianchi in der „Celeste"-Lackierung steht oder ein edles, schwarz-goldenes „Vent Noir" mit braunem Ledersattel und mit goldenen Aufklebern sieht, versteht, was Enthusiasten wie Horst Watzl meinen.

ODE ANS LEBENSGEFÜHL
Zeitnehmung gibt es bei den Retro-Rennen zwar keine, sportlich geht es aber trotzdem zu. „Natürlich gibt es immer Leute, die das ernst nehmen und als erste im Ziel sein wollen, auch wenn es keinen Preis gibt", sagt Watzl. Viele ambitionierte Radfahrer sehen die Veranstaltung auch als Trainingsfahrt. Dabei sind diese Rennen, sportliche Herausforderung hin oder her, vor allem eine Ode an das Lebensgefühl. „An den Labestationen gibt es nicht nur Bananen und Müsli, sondern regionale Produkte. Du kannst sitzen bleiben und jausnen, dir andere Räder anschauen und dich mit anderen Teilnehmern austauschen", erklärt Watzl.

Es gibt aber auch viele Liebhaber, die mit ihrem Stahlross im Alltag fahren. Zur Arbeit zum Beispiel. Wie der Steirer Thomas Traussnigg, der seit seiner Jugend in den 1980er-Jahren auf Rennrädern unterwegs ist. Vor ein paar Jahren hat er sich einen Kindheitstraum erfüllt und ein altes Puch Mistral SE erstanden. „Das wollte ich als Bub immer haben, leider war es damals viel zu teuer."

Traussnigg ist bei Radmarathons am Start, hat 12-Stunden-Rennen bestritten, alles auf modernen Rädern. „Es macht aber einfach Spaß, mit dem Stahlrad zu fahren. Auch wenn es sich nicht so bequem schalten lässt und der Rahmen nicht so steif ist, wie der eines Carbon-Modells. Doch gerade das macht den Charme aus." Heuer will er endlich auch eines der Klassiker-Rennen bestreiten.

Überhaupt nur auf seinem alten Rad ist Michael Überbacher aus Frohnleiten in der Steiermark unterwegs. „Ich hab das Vent Noir von Puch restaurieren lassen und habe nur dieses eine Rennrad, Baujahr 1982. Das war damals ein Top-Rad und fährt sich auch heute noch super." Ersatzteile für die alten Renner finden sich immer noch auf Flohmärkten und in diversen Internetforen.

KLASSIKER NEU AUFGELEGT
Wer aber kein Schrauber ist und keine Muße hat, nach Stahlrädern zu suchen, kann sie seit ein paar Jahren sogar wieder neu kaufen. Bianchi bietet zum Beispiel ein „Eroica"-Stahlrad in der klassischen Form und Lackierung an. Tommasini und De Rosa haben Klassik-Rennräder aus Stahl und mit Rahmenschaltung ebenfalls wieder im Programm. Auch Puch hat den „Vintage"-Trend gefüttert.

„Aber die meisten", sagt In-Velo- Veritas-Organisator Watzl, „wollen einfach ein echtes altes Rad und kein neues, das auf alt gemacht ist." Und schon geraten sie wieder ins Schwärmen, die Klassik-Liebhaber Watzl, Durst, Traussnigg und Überbacher. „Einen Stahlrahmen kannst du reparieren", loben sie. „Wenn ein Carbon-Rahmen kaputt ist, ist er kaputt." Außerdem würden die alten Räder mehr aushalten. „Mit ein bisschen Pflege hält das ewig", sagt Watzl.

Ein noch viel älteres Rad hat Ewald Söls zu Hause stehen. Er hat in seiner Sammlung ein Fahrrad der Marke „Styria" stehen. 120 Jahre ist es alt und aus der Zeit, als Johann Puch noch bei Styria gearbeitet hat und nicht sein eigenes Unternehmen hatte. Das Singlespeed-Rennrad hat keinen Leerlauf, dafür noch Holzfelgen und -griffe. „Wirklich bequem ist es nicht", sagt Söls. Rennen fährt er damit auch keine. Aber beim Tweed-Run, den Vintage-Radausfahrten, die aus London kommend mittlerweile in ganz Europa regelmäßig stattfinden, ist er dabei.

So verschieden die Räder und ihre Besitzer auch sein mögen, in einem sind sich alle Stahl-Freunde einig: Über Stil lässt sich nicht streiten.

Horst Watzl / Bild: In Velo Veritas

Der Experte

HORST WATZL veranstaltet seit 2013 das Klassikradrennen „In Velo Veritas" im Weinviertel, zusammen mit seinen Kollegen Michael Mellauner und Martin Friegl.

Web: www.inveloveritas.at


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