Trailrunning boomt. Es gibt kurze Genussläufe – und es gibt den Wahnsinn Ultramarathon. Den hat Klaus Höfler für SPORTaktiv beim „Irontrail“ in der Schweiz ausprobiert. 88 Kilometer über die Berge – und quer durchs eigene Leistungsgrenzgebiet.


Der Magen will die Nudeln nicht essen, die vor ihm stehen. Die Füße wollen den Weg nicht mehr gehen, der noch vor ihnen liegt. Der Rücken nicht mehr von der brettharten Holzbank aufstehen, auf die er sich gerade hingelegt hat. Und der Kopf will nicht mehr die Kraft aufbringen, den Körper zu überreden, all das trotzdem zu machen. Es ist kurz nach ein Uhr nachts – und ich bin seit fast 15 Stunden unterwegs.
„Irontrail“: Das hatte ein halbes Jahr davor zu verlockend geklungen. Ein Trailrunning-Event durch die Berglandschaft Graubündens, vorbei an Orten, die an den Skiweltcup erinnern: St. Moritz, Lenzerheide, Davos, Klosters. Nur welche Distanz nehm‘ ich? Der Veranstalter hat den einzelnen Bewerben geheimnisvolle Kürzel gegeben: T21, T42, T81, T141 oder T201. Die Zahl verrät zwar die jeweils zu bewältigende Kilometermenge, nichts aber über den Schwierigkeitsgrad der Strecke. Warum ich mich am Ende für den T81 entschieden habe (die laut offizieller Karte sogar 88 Kilometer sind)? Der Mensch wächst mit der Herausforderung, sagt man.

PAUSE IM BUNKER
Im Moment komme ich mir eher geschrumpft vor. Vor allem kräftemäßig. Der letzte Abstieg über 1.000 Höhenmeter vom knapp 2.700 Meter hohen Weisshorn nach Arosa haben die Oberschenkel ausgesaugt. Die Muskelansätze rund um die Kniekehlen schmerzen. Zeit für eine Pause
Tröpfchenweise spuckt die Nacht Teilnehmer in die Labestation. Die Herzlichkeit der freiwilligen Helfer kontrastiert mit der martialischen Kulisse: Es ist ein Bunker! Stahltüren, so dick wie eine Unterarmlänge, Sanitäreinrichtungen aus sterilem Nirosta, mit Stockbetten vollgeräumte Schlafzellen, Orientierungs- und Evakuierungspläne an den eierschalenfarbigen, fensterlosen Wänden. Rohrleitungen laufen knapp unter der geduckten Decke von einem Raum in den nächsten. 300.000 dieser an ein U-Boot-Inneres erinnernden Schutzräume soll es in der Schweiz geben.
Jener am Ortsrand von Arosa dient beim „Irontrail“ als letzter Checkpoint vor dem Ziel. Vor uns liegen noch knapp über 20 Kilometer – und der Strelapass mit 2.346 Metern Seehöhe. Macht in meinem Zustand noch einmal mindestens vier Stunden. Eher mehr, rechnet mein Kopf, während ich appetitlos in den Nudeln herumstochere. Warum man sich das antut? Ich suche in den Gesichtern rund um mich nach Antworten. Müde Augen schauen mich an. Manchmal huscht mir ein Lächeln entgegen, meist sind es verzwickte Grimassen. Es muss die Lust am Leiden sein. Ob am Start alle gewusst haben, worauf sie sich da einlassen?

770 AUSDAUERJUNKIES
„Der schönste Ultratrail der Welt“, hatte Andrea Tuffi tags davor in einem sterilen Hotelseminarraum im Zentrum von Davos geschwärmt. Der drahtige Mann mit den grauen Haaren muss wissen, wovon er spricht. Neben dem „Irontrail“ organisiert er seit 1986 auch den „Swiss alpine“, mit bis zu 5.000 Teilnehmern der größte Berg-Ultramarathon weltweit. Beim „Irontrail“ waren es im Vorjahr 430 Starter, heuer hatte man mit 550 gerechnet. 770 aus 35 Ländern sind es geworden. Es ist eine bunte Mischung von Ausdauerjunkies aus der eingeschworenen Szene der Extremsportler und neugierigen Newcomern in der stetig wachsenden Trailrunner-Community. In Etappen werden sie auf die Reise geschickt. Zunächst die 201-km-Läufer, zwölf Stunden später – um Mitternacht (!) – die 141-km-Starter. Die 81-km-Distanz geht am darauf folgenden Vormittag in Savognin los: Letzte Handgriffe am Mammut-Spezialrucksack, Trinkschläuche werden um Schultern verlegt, Schuhbänder festgezurrt, Wanderstöcke in die richtige Länge geschraubt. Mich kitzelt das Premierenfieber im Bauch. Wie weit werden die Kräfte reichen? Und: Ist das überhaupt zu schaffen?

DIE EISERNE LADY
Schon auf den ersten elf Kilometern türmen sich über 1.200 der insgesamt 5.000 aufzusteigenden Höhenmeter vor mir auf. Im Windschatten der späteren T-81-Damen-Siegerin Brigitte Eggerlin stürme ich ungestüm (und wohl einen Tick zu schnell) Richtung erster Passhöhe. „Endlich beginnt das Laufen“, höre ich die Schweizerin oben noch sagen. Dann ist sie weg, stürzt sich in absonderlicher Geschwindigkeit die Abhänge hinunter. Sie wird sechseinhalb Stunden vor mir im Ziel sein ...
Aber ich bin in guter Verlierergesellschaft. Auf der 201-km-Distanz ist kein Mann so schnell wie Denise Zimmermann, die nach 11.500 Höhenmetern in 38 Stunden und 15 Minuten finished. Und dabei noch
quietschfidel lacht. Selbst ist mir gerade nicht so danach: Nach 34 Kilometern, in Tiefencastel, fühle ich erste Spuren der Anstrengung. Nach 49 Kilometern, in Lenzerheide, sind es tiefe Furchen der Erschöpfung – so ungefähr wie nach einem forsch gelaufenen Marathon. Nur, dass jetzt noch einmal 40 km vor mir liegen. Die meisten davon bergauf. Graubünden kann das gar nicht, einfach nur flach sein. 937 Berggipfel gibt es hier, im größten Kanton der Schweiz, getrennt sind die Gesteinsspitzen und Gebirgsketten durch 150 Täler, 615 Seen haben dazwischen auch noch Platz.
In diese alpine Landschaft haben die Organisatoren eine Route gelegt, die nur zu fünf Prozent über Asphalt führt. Der Naturwege-Anteil liegt bei 29 Prozent, zu zwei Drittel sind es Singletrails. Das macht’s abwechslungsreicher und schöner, aber auch anstrengender. Die massiven Niederschläge in diesem Sommer sorgen zusätzlich für extrem tiefen Boden. Es ist rutschig, gatschig, nass. Nicht nur entlang der Laufstrecke. Am Tag vor dem Wettkampf fährt ein Zug der lokalen Eisenbahn auf eine Mure auf und entgleist. Beim „Irontrail“ selbst bleibt aber bis auf kleine witterungsbedingte Routenadaptionen alles auf Schiene. In Lenzerheide bedeutet das: hinauf zur Hörnlihütte. Mittlerweile fängt es zu dämmern an. Im Windschatten einer kleinen Gruppe schraube ich mich die Geländestufen nach oben. Wieder verliere ich im kurzen Bergabstück den Anschluss. Die Motivation passt sich kurzzeitig dem Wetter an: stark bewölkt.

SPORTaktiv Hotel in der Nähe:
Hotel Lenzerhorn

Infos zur Region:
Lenzerheide


DER HÄRTESTE GEGNER
Aufgrund der dicken Wolkendecke wird es schnell dunkel. Und kalt. Knapp über dem Gefrierpunkt bleibt die Temperatur hängen. Statt atemberaubender Fernsicht engt sich das Blickfeld im aus dem Tal herauf kriechenden Nebel auf den kleinen Lichtkegel der Stirnlampe ein. Die Stimmen rundherum werden leiser. Trailrunning hat kein ausgeprägtes Gruppen-Gen. Zu unterschiedlich ist das individuelle Geschwindigkeitsregime in den Bergauf- und Bergabsektoren, auch die Pausengestaltung divergiert. Irgendwann wird man mit seinem härtesten Gegner allein gelassen: seinen eigenen Grenzen. Zurückgeworfen auf sich selbst, sein Ego und seinen Willen kann der Schinderei aber fast etwas Meditatives abgerungen werden. Auch wenn der Selbsterkenntnisgewinn in diesem Augenblick überschaubar bleibt: Es sind banale Durchhalte-Parolen, die das endlose Schritt-Stakkato begleiten. Wie Edelsteine auf einem schwarzen Seidenpolster funkeln die Lichter der Stirnlampen der Teilnehmer auf den steilen Bergflanken. Immer wieder stößt mich Kuhglockengeläute aus der Monotonie. Die Tiere müssen zum Greifen nahe sein, bleiben aber unsichtbar im Finsteren der Nacht.
Oben, in der Bergstation eines Skilifts, ist auf engstem Raum eine Labestation eingerichtet. Treffpunkt von gespenstischen Gesichtern. Die Kommunikation beschränkt sich auf das Wesentliche. Also fast nichts. Zittrige Hände halten Plastikbecher mit klarer Gemüsesuppe, ausgetrocknete Münder kauen an zartem Bündnerfleisch. Der eigene Organismus fährt längst im Reservebereich. Härter kann ein Triathlon auch nicht sein.
Und wieder geht’s raus in den Regen, der seit Stunden vom Himmel nieselt. Er gießt die Sehnsucht nach dem Ziel. Nach 21 Stunden und einem Wimpernschlag habe ich es erreicht. Die letzten Laufschritte begleitet ein „Ich könnte die Welt umarmen“-Gefühl. Es wird nicht die Welt, aber eine Flasche Bier.

PS: Ist das tatsächlich mein Kopf, der da später in der Sauna des Hotels über Optimierungspotenzial bei der Ausrüstung und der Krafteinteilung auf der Strecke nachdenkt. Spinnt der? Ich hatte mir doch oben am Berg ein „Nie wieder!“ geschworen.

PPS: Hoffentlich fragt mich im nächsten Frühjahr keiner, ob ich Mitte August nicht Lust hätte, wieder am „Irontrail“ teilzunehmen. Ich würde wohl zusagen. Der Virus hat mich erwischt.


Klaus HöflerUNSER MANN ON TOUR

  • Klaus Höfler stellte sich diesmal für SPORTaktiv auf Einladung von Outdoor-Ausrüster Mammut der Prüfung „Swiss Irontrail. Er bewältigte die 81-km-Strecke (5.000 Hm hinauf, 4.500 Hm hinunter) in 21 Stunden 19 Sekunden. Sieger: Aldous Jay (I) in 12:29,20 bzw. Brigitte Eggerling (CH) 14:25,01.
  • 201 km: Sensationell Denise Zimmermann in 38:15,54, weit vor dem schnellsten Mann, Thomas Ernst (beide CH), 38:54,15.
  • 141 km: Marco Gazzola 22:33,18 (I) bzw. Arianna Regis (CH) 30:00,34.

Gesamt waren 770 Teilnehmer am Start.

Weitere Infos findest du auf www.irontrail.ch



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