Anstieg, Abstand, Kurven. Dass diese drei Begriffe in Zeiten wie diesen auch Freude bedeuten können, zeigt ein Rennrad-Trip nach Südtirol zur Sellaronda.

Klaus Molidor
Klaus Molidor

Fare quattro passi, vier Schritte machen
So nennen es die Italiener, wenn sie einen kleinen Spaziergang machen, sich einfach locker die Beine vertreten. Gerne macht man das nach einer klassischen üppigen Speisenfolge mit einem hauchdünnen Carpaccio, gefolgt von Spaghetti Pomodoro und vielleicht sogar noch einem Bistecca Fiorentina, einem Rindersteak, von dem auch eine vierköpfige Familie satt werden würde. Daran muss ich jetzt denken, als die Bäume am Straßenrand wieder verschwinden, die Vegetation wieder karger wird und sich das von nostalgischen Begrenzungssteinen gesäumte Asphaltband wieder bergauf windet. Passi sind nämlich auch die Pässe, in dem Fall die berühmten Dolomitenpässe und der Passo Sella ist der vierte des heutigen Tages. Der Gedanke an den Gleichklang zweier so komplett unterschiedlicher Dinge macht wieder zwei, drei Kurbel- umdrehungen leichter, der markante Sellastock ebenfalls. Denn die Alpenpässe, die überquert unser Grüppchen mit dem Rennrad.

Vor sechs Stunden hatten in Canazei alle ein Strahlen in den Augen, bei der Aussicht auf die berühmte „Sella Ronda“, die vor uns lag. Verständlich. Frederik aus Belgien ist Journalistenweltmeister auf dem Rennrad, Liam, mit dem wunderbaren britischen Akzent aus dem südenglischen Bath, hat schon am Vorabend auf die Panna cotta verzichtet, weil er „leicht sein will für heute“. Jan aus Deutschland hatte als Endzwanziger die Jugend auf seiner Seite, Willem, der Hüne aus Holland, jährliche Kilometerleistungen von fünf-, sechstausend auf seiner Habenseite. Sie alle haben leicht lachen, als uns Guide Francesco vorm Hotel Croce Bianca in Canazei abholt. Aber ich? Relativer Rennradnovize. Immerhin kann ich beim Kampfgewicht halbwegs mithalten mit der internationalen Truppe. „Hier hab ich mich ins Rennradfahren verliebt“, sagt auch Jo­s­hua­ Riddle, kurz vor der Abfahrt. Jo­shua ist Amerikaner, lebt aber seit 14 Jahren in bella Italia und ist auch mit einer hiesigen Belladonna verheiratet. Darum macht er sprachlich auch eine bella figura. Er ist Marketingmanager bei Basso Bikes und rollt die Räder für unsere Runde aus dem Radkeller. Basso Diamante SV. „Das steht für Superveloce“, sagt Joshua. Superveloce, superschnell. Na bravo. Ein Aerorahmen auf der Höhe des technischen Schnickschnacks. Die Kenner frohlocken, während ich meine MTB-Pedale auf die Kurbelarme murkse. „Andiamo“, ruft Francesco und los geht es. 

Nicht auf die klassische Sella Ronda, so viel sei vorausgeschickt. Statt des Passo Pordoi schrauben wir uns den Passo Fedaia nach oben. „Damit sehen wir auch den Gletscher der Marmolada“, erklärt Carlo Brena, der die Runde organisiert hat und selbst mitfährt. Ehrensache. Ihn mache ich als Einzigen aus, bei dem ich es unter Umständen schaffen könnte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Ziemlich frisch ist es für Anfang September, der Himmel ist bedeckt, Ärmlinge und ein Windgilet unumgänglich. Nach ein paar Aufwärmkilometern in der Ebene geht es erstmals bergauf. Gleich nach Canazei wird es ruhig, der Verkehr ebbt ab, und auch der Mindestabstand ist gleich überhaupt kein Thema mehr – ich trete mutterseelenallein in die Pedale. Die Straße schlängelt sich märchenhaft durch den Wald, der noch dazu intensiv riecht, Wildbäche rauschen. Schnell stellt sich das ein, was ich wie so viele am Rennradfahren liebe. Die kontemplative Bewegung, Fortkommen allein mit Muskelkraft mit einem großen Aktionsradius. Kehre um Kehre geht es aufwärts, nie sehr steil, nie flach. Hart wird es nur kurz vor der Passhöhe in den Galerien, dort ist die Steigung schon ordentlich. Machbar, der Tag ist jung, die Laune steigt. Kurz, denn hier setzt erstmals der Regen ein. Windjacke, Regenjacke, lange Handschuhe. Ein Gruppenfoto vorm Gletscher noch und dann runter. „Ragazzi, passt auf, eh“, warnt Carlo Brena. „Hier geht es sehr steil bergab.“

Dazu noch bei nasser Fahrbahn und der einen oder anderen Baustelle. Die Scheibenbremsen quietschen, Carlos Hinterrad kann ich meistens aber noch sehen. Die anderen? Schmerzbefreit. „85 km/h“ grinst Jan auf einem kurzen Flachstück. Denn danach wartet zwar kein offizieller Pass, aber auch ein Anstieg hinauf nach ­Arrabba, wo wir auf die klassische Sella Ronda einbiegen und der Passo Pordoi runterkommt. Der Anstieg zum Passo Campolongo wird zur Nervenschlacht im Gruppetto. Erst lockt mich Carlo noch mit der Aussicht auf ein Mittagessen, dann klettert er mir davon. Der mit 5 Kilometer kürzeste aber sehr knackige Pass ist eindeutig nicht mein Liebling. Weder von der Steigung noch von der Landschaft her. Immerhin: Es regnet nicht mehr. Und Carlo komme ich auch näher und näher. Irgendwann bin ich neben ihm, ein Elefantenrennen bahnt sich an, eine halbe Radlänge liege ich vorne, da springt Carlo aus dem Sattel und im Wiegetritt davon. Völlig egal. Bei einem Gröstl auf der Passhöhe wärme ich Körper und Seele auf. Bei der Abfahrt Richtung Corvara stellt sich schon so was wie ein flaues Gefühl im Magen ein – ein untrügliches Zeichen fürs Verliebtsein ins Rennradfahren in dieser Region. Genauso wie es Joshua ergangen ist. 

50 Kilometer liegen hinter uns. Vor uns: der Passo Gardena. „Die Aussicht hier ist traumhaft“, sagt Francesco. Theoretisch ist sie das. Praktisch regiert der Nebel. Auch egal. Der Pass ist mein Liebling. Rhythmische Kehren wechseln sich mit kurzschwungartigen Kurven ab, der Nebel zieht über die Fahrbahn, hin und wieder sieht man Felsen, mystischer geht es kaum. Was mir im meditativen Treten aufblitzt: In Italien haben Rennradfahrer einen ganz anderen Stellenwert als anderswo. „Forza, forza“ ruft ein Straßenarbeiter. „Ich hab gedacht, bei der Tour de France ist heute Ruhetag“, ein anderer. Autofahrer sehen uns nicht als Hindernisse oder gar als nicht vorhanden, sondern weichen in angenehmem Abstand aus. Auf den letzten Metern vor der Passhöhe überhole ich jemanden. Die Dame ist Anfang 70 und klettert ihrem Mann hinterher, der eine Kurve weiter oben wartet. 
Die Landschaft ist einfach zu verlockend für Rennradfahrer.

Der Untergrund meistens sehr gut
„Weil die Pässe für die Hobbyrennen nahezu jährlich neu asphaltiert werden“, erzählt Carlo. Nur 2020 sind diese Veranstaltungen ausgefallen, da fehlte dem Veneto auf der nördlichen Seite der Runde das Geld für den neuen Belag. Die Abfahrt vom Grödnerjoch noch und dann ein paar Kilometer rauf auf das Sellajoch – dann ist es geschafft, von dort weg geht es schließlich nur noch bergab. Fare quattro passi. Vier Schritte machen klingt gleich wie vier Pässe machen. Dass ich nicht lach! Es gibt schon keine Position mehr am Rad, die angenehm wäre, und es geht immer noch bergauf. Wie sich sechs Kilometer ziehen können. Dafür lichtet sich der Nebel, endlich bekomme ich eine Ahnung davon, wie umwerfend die Runde bei Sonnenschein sein muss. Für mich gibt’s runter nach Canazei dafür wieder einmal Regen. Wurscht. Es gibt auch die Erkenntnis, dass man gar nicht anders kann, als sich hier ins Rennradfahren zu verlieben. Wegen der Straßen, der Begeisterung der Menschen hier wegen der imposanten Berge. Wiederholung folgt. Dann hoffentlich unter dem Titel: O sole mio!

Sellaronda
Am Sellaronda Bikeday sind die Pässe Pordoi, Campolongo, ­Gardena und Sella für den Autoverkehr gesperrt und die Strecke gehört allein den Radfahrern. 2021 findet der Bikeday am 27. Juni statt. Empfohlen wird, die Strecke gegen den Uhrzeigersinn zu fahren. Auf der klassischen Route sind 58 Kilometer und 1637 ­Höhenmeter zu absolvieren.
www.sellarondabikeday.com