Mountainbiken in der Metropole? Das geht. Und wie! Fünf Tage kreuz und quer durch Los Angeles. Auf Trails und Treppen, durch Hollywood und Heimatlosen-Viertel, auf Straßen und in unberührter Natur.

Hans Rey

Seit mehr als 30 Jahren lebe ich in Südkalifornien. Nach Reisen in über 70 Länder und nach Bike-Touren in den entferntesten Winkeln der Welt dachte ich, es wäre einmal an der Zeit, mein Viertel zu entdecken. So entstand der Plan, Los Angeles, eine der größten Städte der Welt, an fünf Tage mit dem Bike zu durchqueren. Und dabei nicht nur die unglaubliche Natur und die Berge zu entdecken, die die Stadt umgeben, sondern auch ihre vielfältigen Nachbarschaften, Vororte und berühmten Wahrzeichen. Wie könnte man das besser machen als an der Seite von ein paar MTB-Rockstars.

Missy Giove ist eine der größten Legenden, die dieser Sport je gesehen hat. Sie hatte einen riesigen Einfluss auf die Entstehung der Rennszene und deren Rockstar-Image in den 1990er-Jahren. Ihr kindlicher Enthusiasmus und ihre Naivität verdecken manchmal die tiefgründige und intelligente Person dahinter. Diese Frau ist komplett angstbefreit, süchtig nach Speed und fährt ohne Rücksicht auf Verluste oder Angst um ihre Knochen. Timmy C (Tim Commerford) ist ein alter Freund, Hardcore-Biker und Bassist in Bands wie „Rage Against the Machine“. Er ist in L.A. aufgewachsen und bringt mehr Leidenschaft fürs Bike mit als viele Profis, die ich über die Jahre kennengelernt habe.

Lasset die Spiele beginnen: Das LA Projekt startet 
Los geht’s östlich von L.A. in 1740 Metern Seehöhe auf dem Mount Wilson in den San Gabriel Mountains. Es geht in den Westen, Richtung Catalina Island im Pazifik. Um die urbanen Etappen in der Stadt mit 12 Millionen Einwohnern aus 140 Nationen zu bewältigen, haben wir uns für einen Mix aus normalen Bikes und E-Bikes entschieden. Vor weniger als 150 Jahren war der Großteil der Stadt noch wilde Natur, so wie es in Teilen des Umlands auch heute noch aussieht.

Wilde Natur
Eine meiner Lieblingstouren war immer Chantry Flats in der Nähe von Mount Wilson. Dort mit Missy zu fahren, ist etwas ganz Besonders, vor allem weil sie in den letzten 10, 15 Jahren seit ihrem Abschied aus der Rennszene kaum auf einem Bike gesessen ist. Am Ausgangspunkt der Tourhatten wir eine unglaubliche Aussicht über die ganze Stadt, bis hin zu Catalina Island, dort, wo unsere Tour in ein paar Tagen enden sollte. Hinter uns? Nur Natur. Schöne Wälder, Bergkämme, Wasserfälle, Canyons und wild lebende Tiere trennen „La La Land“ von der Wüste. In diesen Bergen verirrst du dich schnell, die Singletrails sind Weltklasse und oft sehr technisch. Neben Schlangen und Bären mussten wir auch auf Blätter der Gifteiche achten. Wenn du gegen die allergisch bist – so wie ich – und sie berührst, hast du tagelang einen juckenden Ausschlag, der dich fast in den Wahnsinn treibt. Außerdem sind die Trailsan gewissen Stellen extrem ausgesetzt, etwa bei der Querung eines 25-Meter-Wasserfalls. Ein Fehler hat dort fatale Folgen. 

E-Bikes sind kein Betrug
Nach der Nacht in Pasadena sind wir am zweiten Tag mit E-Bikes weitergefahren. Richtung Downtown. Dabei sind Timmy C und Tony Z zu Missy und mir gestoßen. Tony ist ein Freund aus Laguna Seca, der die urbanen Teilstücke dieser Tour beigesteuert hat. Er kennt sich unglaublich gut aus in all den Nachbarschaften, Parks, Flussdeltas, Stiegenaufgängen und Abkürzungen. Diese einzigartigen Routen zu finden, die einmaligen Gebäude und versteckten Trails, kostete eine Menge Forschungsarbeit.  Wir wollten ja die Gegensätze erkunden zwischen Arm und Reich, Natur und Stadt, Geschichte und Kultur.

Das E-Bike war für dieses Vorhaben perfekt. Und bitte nicht falsch verstehen: Nur weil wir ein bisschen Elektrounterstützung hatten, heißt das nicht, dass wir uns nicht angestrengt haben. Wir haben über 1200 Höhenmeter gemacht, darunter ein paar wirklich steile Wadlbeißer-Anstiege und Stiegenaufgänge. Gleich am Beginn bei der City Hall ist Timmy bei einer Treppe gesprungen – kein guter Platz für einen Crash für einen Mann, der sein Geld mit Gitarrespielen verdient. Aber keine Angst, er ist gut gelandet und ich war froh, dass ich seinen Band-Kumpels nicht sagen musste, dass ihre Tournee abgesagt ist. Timmy ist ein sehr erfahrener Biker und hat wie ich in den letzten Jahren ein großes Interesse an E-Bikes entwickelt. Wir sind der Meinung, dass sie normale Bikes nicht ersetzen werden, sondern dass es Zeit und Raum für beide Typen gibt. Der Elektromotor eröffnet dir viele neue und einzigartige Möglichkeiten und schafft neue Optionen auf alten Routen. E-Bikenist kein Betrug – außer du misst dich damit mit anderen. E-Bikes zaubern ein Lächeln auf die Gesichter ihrer größten Kritiker, wenn sie selbst einmal eines ausprobieren. 

Starke Kontraste
Nach Pasadena ging es weiter durch das Flussbett des Arroyo Seco und Richtung Zentrum von L.A. Vom Radio Hill fuhren wir nach China Town, durch ein paar dubiose Obdachlosengebiete. Viele haben sich hier Unterstände aus Karton oder Planen gebaut, andere hatten wenigstens Zelte. So gefährlich es für Vorstadt-Jungs auf teuren Rädern hier sein kann – es war viel schockierender zu sehen, wie viel Armut es in dieser glitzernden Stadt gibt. Neben Autobahnen, unter Brücken, in Parks und in heruntergekommenen Vierteln wie dem berüchtigten „Skid Row“ leben Menschen. Ganze Häuserblocks haben hier provisorische Unterkünfte und Zelte auf den Gehsteigen. Im Schatten der Wolkenkratzer haben viele ihr ganzes Hab und Gut in „geborgten“ Einkaufswägen verstaut. Dabei hat L.A. einen enormen wirtschaftlichen Einfluss – weltweit. Die Wirtschaft der Stadt ist größer als jene in Saudi-Arabien, Schweden und der Schweiz.

Am dritten Tag ging es – wieder auf E-Bikes – zum Santa Monica Pier. Natürlich vorbei am berühmten „Hollywood“-Schriftzug, im Slalom durch die 2500 Sterne am Walk of Fame, über ein paar Trails, bis wir bei den Reichen und Schönen in Beverly Hills rauskamen. Am Rodeo Drive fuhren wir am Hinterrad zwischen all den Lamborghinis und Rolls-Royces durch und radelten zu den Baywatch-Stränden nach Santa Monica. 

Andere Welt
Am vierten Tag ging es auf unseren normalen Bikes durchs verlassene Hinterland, Tommys Hausstrecken in den Santa Monica Mountains. Wir hatten eine Menge Spaß auf herrlichen Singletrails, inCanyons und Tälern und auf Bergkämmen mit Panaromablick hoch über dem Pazifik. Der letzte Trail führte uns über einen Grat hinab, bei dem der dunkel­blaue Ozean mit jeder Kurve näher kam.

Am letzten Tag ging es mit dem Boot von Freunden auf Catalina Island. 95 Prozent der 35 Kilometer langen Insel sind Naturschutzgebiet und so unberührt wie vor 100 Jahren. Hier gibt es Füchse und Bisons, die in den 60er-Jahren ausgesetzt wurden, als viele Western auf der Insel gedreht wurden. Man muss eine Genehmigung kaufen und darf nur auf den Feuerwehr-Zufahrtsstraßen, nicht aber auf den vielen Hügeln legal fahren. Die Insel fühlt sich wie eine andere Welt an, obwohl sie nur 40 Kilometer vor der Küste einer der größten Städte der Welt liegt. An einem klaren Tag kann ich sie von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen. Die Etappe war der perfekte Abschluss einer Erkundungstour durch die „Stadt der Engel“ mit all ihren versteckten Trails, Vierteln und Gegensätzen.

Tag 1 des Abenteuers "TransAngeles"