Der Jungfraumarathon in der Schweiz ist steil, schwer und schön. Zumindest von den ersten beiden Attributen konnte sich unser „Mann fürs Grobe“ auf 42,195 Kilometern überzeugen.

Klaus Höfler

In zwei Minuten, 25 Sekunden war der Kuchen damals gegessen. 57 Hundertstel hinter dem Sieger Lasse Kjus belegte Hans Knauß den dritten Platz in der Weltcupabfahrt von Wengen. Das war 1999. 18 Jahre später hat sich vieles geändert. Die Jahreszeit, der Untergrund, die Ausrüstung, die Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit.

Es ist ein verregnet-kühler Septembersonntag, die Almen im Berner Oberland stehen voll im Saft. Grüne Wiesen statt weißer Schnee. Statt auf Skiern Richtung Tal zu donnern, ist Hans Knauß im Laufdress Richtung Gipfel unterwegs. Das macht die Sache nicht einfacher. 1829 Höhenmeter liegen vor ihm, ausgewalzt auf 42,195 Kilometer zu einem der spektakulärsten Marathons im Alpenraum.

Der Jungfraumarathon führt von Interlaken in der Zentralschweiz über Lauterbrunnen und Wengen hinauf auf die Kleine Scheidegg auf 2095 Meter Seehöhe. Die Kulisse: atemberaubend. Theoretisch. Denn das „Trio fantastico“ – Eiger, Mönch und Jungfrau – hat sich an diesem Wochenende hinter einer dichten Regenwolken-Nebelwand verschanzt. Erst das zweite Mal in 25 Jahren, versichern die Organisatoren. Ein schwacher Trost. 

Das Hirn ist damit beschäftigt, den Beinen mitzuteilen, dass sie weitergehen sollen und, dass einen Stehenbleiben dem Ziel nicht näher bringt.

Klaus Höfler, unser "Mann fürs Grobe"

Vor dem mondänen Grandhotel Victoria schwingen Fahnenschwinger Schweizer Fahnen, blasen Alphornbläser Schweizer Alphörner, stellen sich 5000 Starter aus der ganzen Welt in die Startaufstellung. Sie fühlen sich schon jetzt wie Gewinner, haben sie doch im Rennen um einen der begehrten, aber immer zügig ausverkauften Startplätze, Erfolg gehabt. Zwei Mal – zum zehn- und zwanzigjährigen Jubiläum – hat man den Lauf aufgrund explodierender Nachfrage gestaffelt an zwei Tagen hintereinander abgehalten. Im vergangenen September reicht ein gemeinsamer Start. Dass es sich um den ältesten Bergmarathon der Alpen handelt, merkt man auf den ersten Kilometer nicht. Die Meute brettert los als gäbe es kein Morgen.

Das wirkt gefährlich mitreißend, obwohl ich es nach einem letzten Blick auf das Streckenprofil und im Wissen, was danach kommt, eigentlich gemütlicher angehen wollte. Zehn Kilometer sind nach 43 Minuten, der Halbmarathon durch klingende Ortschaften wie Wilderswil, Gsteigwiler und Zweilütschinen nach weniger als hundert Minuten absolviert. Bis dahin ist, abgesehen von kurzen Bergaufpassagen und Wiesenwegen, von einem Berg-(!)Marathon noch nicht wirklich etwas zu bemerken. Erst kurz vor Lauterbrunnen wird die „Vorspeise“ in Form eines ersten Anstiegs serviert. Der Hauptgang folgt gleich nach der Ortschaft: Bei Kilometer 25 stehen wir Läufer vor der „Wand“. So wird der steile Anstieg hinauf nach Wengen genannt. 500 Höhenmeter sind auf den nächsten sechs Kilometern zu überwinden. In spitzen Serpentinen führt der Trail Richtung Himmel. Oben fühlen sich die Oberschenkel an, als wäre man gerade im Windschatten von Hans Knauß die 4500 Meter lange Lauberhornabfahrt hinuntergerauscht: am Ende. Dabei geht es jetzt erst richtig los.

Weitere 600 Höhenmeter sind bis zur Wengernalp zu absolvieren. „Bei schönem Wetter reicht die Sicht auf die Berge und Gletscher des Jungfraumassivs“ bewerben offizielle Streckenbeschreibungen dieses Stück. Schon möglich, dass sich dieses Prachtpanorama irgendwo in der dicken Nebelsuppe versteckt. Es zeigt sich nur nicht. Dafür wird der Regen gerade wieder stärker. „This weather sucks!“, höre ich einen hinter mir in britischem Bassena-Slang fluchen. Die feine englische Art ist das nicht. Aber auch nicht ganz falsch.

Flacher wären die nächsten Kilometer aber auch bei Schönwetter nicht. 400 Höhenmeter geht es auf enger werdenden Wegen dahin. An Laufen ist in diesem Segment nicht oft zu denken. Stattdessen stapfe ich in einer langen Kette von Mitstreitern im ambitionierten Gänsemarsch einen Schottertrail hinauf. Dass es sich um den Grat der Moräne des Eigergletschers handelt, bleibt wegen blickdichte Wolkenvorhänge unbemerkt. Und an die Streckenbeschreibung will sich mein Hirn gerade nicht erinnern. Es ist mit anderem beschäftigt. Den Beinen mitzuteilen, dass sie weitergehen sollen. Sie davon zu überzeugen, dass einen Stehenbleiben dem Ziel nicht näher bringt. Dass es eh nicht mehr weit ist. Tatsächlich treiben die jetzt wieder dichter stehenden Zuschauer uns Läufer mit Kuhglocken, Anfeuerungen und beherztem Klatschen nach oben.  Bei der Locherflue wartet schließlich der obligate Dudelsackspieler. Zeichen, dass das „Top der( Tor)Tour“ erreicht ist. Nach einer leichten Rechtskurve baut sich plötzlich der Zielbogen vor mir auf, viereinhalb Stunden nachdem ich in Interlaken losgerannt war. Der Sieger ist da schon über eineinhalb Stunden im Ziel. Und Hans Knauß? Er absolviert den Marathon in 5:18 Stunden.