Absolute Sicherheit kann es im freien Gelände nicht geben. Eine Tatsache, die leider der heurige Winter mit zahlreichen Lawinentoten bereits auf besonders tragische Weise unter Beweis gestellt hat. Fälle wie jener im Jänner, als drei erfahrene Bergretter in ihrer Freizeit in einer Lawine ums Leben kamen, zeigen auf: Nicht nur die Unerfahrenen sind gefährdet.


Schicksal? Ja, schon. Klar ist aber auch: Wo Menschen am Werk sind, da passieren Fehler. Aber gerade solche Fehler können zumindest teilweise vermieden werden, wenn man sich der menschlichen Schwächen nur bewusst ist. Mag. Peter Gebetsberger, Leiter der Skitouren- und Lawinenkurse im Rahmen der Bergführerausbildung in Österreich und Naturfreunde-Experte, erklärt im Interview, warum der „Risikofaktor Mensch“ in seinem neuen Konzept „w3“ eine viel größere Rolle spielt als im bisher bekannten Lawinenrisiko-Management.

Die logische Einstiegsfrage: Wofür steht dieser Name „w3“?
Der steht für die drei „W“-Fragen, die man sich auf einer Skitour ständig stellen muss. Erstens: Was ist gefährlich? Da geht es um die Wetterverhältnisse – Niederschläge, Wind, Temperatur, Sonneneinstrahlung etc. Zweitens: Wo ist es gefährlich? Diese Frage bezieht sich aufs Gelände – wie Exposition oder Hangneigung. Drittens: Wer trifft Entscheidungen? Diese Frage zielt auf die subjektiven und sozialen Faktoren ab. Die Kernaussage an w3 ist, dass bei wichtigen Entscheidungen gerade diese subjektiven und sozialen Faktoren oft das Zünglein an der Waage sind.

Diese Betonung der „menschlichen“ Faktoren – ist das das Neue an w3?
Nein, bisher sind in dieser Form die sichtbaren, objektiven Faktoren wie Gelände, Verhältnisse, Gruppengröße usw. und gleichzeitig die subjektiven und sozialen Faktoren nicht gemeinsam berücksichtigt worden.

Was versteht man unter „subjektiven und sozialen“ Faktoren?
Subjektive Faktoren betreffen die Einzelperson: die eigene Wahrnehmung, persönliche Risikobereitschaft, Ehrgeiz. Sie beziehen sich darauf, wie es mir persönlich geht und welche Gefühle, Gedanken, Erfahrungen und Entwicklungen meine Entscheidungen beeinflussen. Mein momentaner Gemütszustand beeinflusst meine Entscheidungen bewusst, unterbewusst und unbewusst.

Was bedeutet das konkret?
Hast du beispielsweise eine stressige Arbeitswoche hinter dir, werden deine Entscheidungen auf einer Skitour anders aussehen, als wenn du bereits drei, vier Tage in den Bergen bei schönem Wetter und Schnee verbracht hast. Wenn ich mir diese Umstände nicht bewusst mache und in meine Entscheidung mit einbeziehe, kann es sehr leicht sein, dass ich Alarmzeichen in der Natur nicht mehr erkenne und Fehlentscheidungen treffe.

Und die sozialen Faktoren?
Da geht es um das Verhalten in der Gruppe. In jeder Gruppe gibt es eine gewisse Dynamik, Gruppenentscheidungen fallen beispielsweise oft riskanter aus als die Entscheidungen einer Einzelperson. Wichtig ist es, zu verstehen und zu berücksichtigen, dass auch diese Prozesse innerhalb einer Gruppe sich auf das Entscheidungsverhalten jedes Skitourengehers auswirken.

Können Sie an einem konkreten Beispiel illustrieren, wie sich „menschliche“ Faktoren auf das Risikoverhalten auswirken?
Wenn man beispielsweise bei geringer Schneelage eine Skitour macht und zu einer eingewehten Rinne kommt, weiß man, dass sie gefährlich ist. Man will aber trotzdem auf den Gipfel kommen, eine schöne Abfahrt haben. Dann beginnt das Argumentieren: Jetzt bin ich schon so weit hergefahren, habe mir diese Abfahrt schon so lange vorgenommen, der Wind ist gar nicht so stark ... Man geht also die Rinne hinauf – es wird schon gut gehen. Doch immer wieder geht es eben nicht gut aus.

Im w3-Konzept fällt auch der Begriff „Expertenfalle“. Was muss man darunter verstehen?
Bergsteiger mit viel Erfahrung neigen dazu, ihren Entscheidungen sehr stark zu vertrauen. Das allein ist freilich noch nicht problematisch. Führt dieses Verhalten aber zu einer selektiven Wahrnehmung der Natur, dann ist schon eine sehr große Anzahl widersprüchlicher Informationen notwendig, um die Situation neu zu überdenken.

Welche Rolle spielt in w3 die klassische Lawinenkunde?
Sie ist Teil des Ganzen. Gewisse Grundsätze wie klassische Schnee- und Lawinenkunde sind eine Vorraussetzung, um w3 anwenden zu können. Man kann ja auch nicht Auto fahren, ohne zu wissen, wie man startet. Ich kann keine Entscheidung in einer risikoreichen Situation im Winter treffen, ohne gewisse Grundlagen zu kennen.

Wie bereite ich mich nun nach dem w3-Konzept risikobewusst auf eine Skitour vor?
Selbstverständlich muss jede Skitour sorgfältig geplant und vorbereitet werden. Du musst die Gegebenheiten des Geländes kennen, dich über den weiteren Wetterverlauf informieren und den Lawinenlagebericht genau studieren. Aber die zusätzlichen Fragen sind: In welcher Gemütslage befinde ich mich derzeit? Bin ich gestresst und verkrampft oder ausgeglichen und ruhig? Und betreffend die Gruppe, mit der man unterwegs sein wird: Wer geht mit? Welchen Ausbildungs- und Konditionszustand haben die anderen? Handelt es sich um eher gemütliche oder „wilde“ Skitourengeher? Und vor allem: Können sich daraus Probleme ergeben?

Und was sind die wichtigsten Kriterien, wenn ich im Winter im Gelände unterwegs bin?
Zwei absolut wichtige Punkte sind Bewusstheit und Selbstverantwortung. Ich muss mir bewusst sein, was ich tue und was meine Entscheidungen beeinflusst. Zur Selbstverantwortung: Das Verwenden von Formeln oder irgendwelchen vorgefertigten Strategien, etwa aus der „statistischen Lawinenkunde“, ist oft der Versuch, Selbstverantwortung abzugeben. Mit w3 will ich einen Handlungsverlauf vorschlagen – und jeder Punkt dieses Ablaufs muss selbstverantwortlich und bewusst ab- bzw. durchgearbeitet werden.

Und das geschieht mit den eingangs erwähnten „w3“-Fragen?
Genau: „Was – Wo – Wer?“. Es ist immer eine Kombination aus Verhältnissen, Gelände und Mensch, wenn ein Lawinenunfall passiert. Im Gelände muss ich meine gesamte Planung immer und immer wieder reflektieren und laufend hinterfragen.



DER EXPERTE
MAG. PETER GEBETSBERGER ist seit 1996 Leiter des Lehrgangs „Skitouren und Lawinen“ im Rahmen der Österreichischen Bergführerausbildung und seit 2003 Leiter der Abteilung „Naturfreunde sports“ bei den Naturfreunden Österreich.

Kontakt:
peter.gebetsberger@naturfreunde.at
Weitere Infos:www.naturfreunde.at


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