Was tun, wenn das Ziel wegfällt? So ganz und komplett und saisonflächendeckend. Antwort: Den Weg entdecken und den Ur-Antrieb wiederfinden, der uns einst zur Bewegung gebracht und uns mit der Faszination angesteckt hat.

Klaus Molidor
Klaus Molidor

Es fühlt sich richtig an. So richtig und gut wie schon lange nichts mehr. Laufen, einfach laufen, ohne Pace und ohne Ziel, ohne Herzfrequenzkontrolle und ohne den imaginär erhobenen Zeigefinger eines Trainingsplans. Einfach Schuhe an und einen Schritt nach dem anderen machen. Die Corona-Krise hat alle Wettkampfplanungen zunichte gemacht. Wie Perlen waren sie nacheinander aufgereiht, die Laufbewerbe des Jahres. Halbmarathon beim Welschlauf, 24-h-Staffellauf mit Freunden, Großglockner Berglauf, Großglockner Ultra Trail, und im Herbst als Krönung ein Marathon. In Florenz vielleicht, oder in Valencia. Beide schön spät im Kalender gelegen, damit sich ein Sommerurlaub UND eine gute Vorbereitung ausgehen. Angesichts dieser laufsportlichen Preziosen fallen die Vorsätze, das gewohnte Verhaltensmuster zu durchbrechen, gleich wieder über Bord. Wir drehen uns weiter in der tiefen Rille der Schallplatte, bringen nicht den Schubser zusammen, die Nadel aus der Bahn zu werfen und das Immergleiche gegen eine neue Erfahrung zu tauschen. Und dann: das Virus. Ein Schnitt und die Perlen purzeln von der Schnur zu Boden, rollen davon, die Nadel hüpft aus der Rille. 

Was für ein Glück, dass wir Menschen sind. Die radikale Veränderung, die über uns gestülpt wurde, kann uns nicht dauerhaft etwas anhaben. Wir haben die Fähigkeit zur Anpassung. Das hat das Überleben unserer Art gesichert. Eiszeit, Tauwetter, Kontinentaldrift, grundlegend veränderte Habitate – wir haben uns angepasst. Dinosaurier? Mammuts? Mächtige Tiere, aber ausgestorben. Wir passen uns an. Und so fühlt es sich zwar gleich wie ein Verlust an, als dämmert, dass es mit Wettbewerben heuer wohl eher gar nichts werden wird. Gleich darauf aber weicht dieses Gefühl einer tiefen, fundamentalen Freude. Rausgehen ist plötzlich wieder ein Grundbedürfnis wie Essen, Trinken und Schlafen. Selbst die erste zaghafte Drei-Kilometer-Runde fühlt sich kostbar an. Freiheit statt Beschränkung. Der Geist hört den Atem, die Schritte, die Vögel statt Replikationsfaktor, Kurvenabflachung, FFP2-­Schutzmasken.

Daneben wird alles unwichtig. Wie schnell bin ich denn gerade unterwegs? Völlig bedeutungslos. Ein Rückschlag, ja, aber ein Rückschlag in ein damals, als Laufen gleich Verbesserung des Wohlbefindens war. Als die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist und ich gewusst habe, wenn ich sie wieder aufsperre, geht es mir deutlich besser. Egal, wie gut oder schlecht es mir davor gegangen sein mag. Wie zaghaft sich die Blätterknospen der Birke öffnen. Wie viele unterschiedliche Vogelstimmen es gibt. Hab ich eigentlich jemals eine Schwalbe über mir gesehen auf dem Trampelpfad meiner Hausrunde? 

Ich lasse mich überraschen von der Tagesverfassung, von dem, was mir mein Körper sagt.

Klaus Molidor

Laufen völlig nach Lust und Laune hat wieder Einzug gehalten, weil es keine Mesozyklen mehr gibt, keine spezifische Wettkampfvorbereitung, kein niedergeschriebenes Tapering und keinen Formaufbau. Dafür Laufen auf Gehör. Auf das Gehör des eigenen Körpers. Wie weit wird es heute gehen? Auf den ersten Schritten erlaube ich mir, diese Frage mit „keine Ahnung“ zu beantworten. Ich lasse mich überraschen, von der Tagesverfassung, von dem, was mir mein Körper sagt. Schnell oder langsam, lange oder kurz, Wald oder Straße – alles Optionen, die jedes Mal offen sind. Der Zugang zum Gefühl ist wieder schleusenweit geöffnet. Der Körper gibt den Rhythmus vor. Was für ein Geschenk, wieder darauf zu vertrauen, sich wieder daran auszurichten. Und endlich gelingt es auch, Dehnungs- und Kräftigungsübungen regelmäßig zu absolvieren, damit eben das Grundbedürfnis nach Frischluft im Laufschritt auch befriedigt werden kann.

Darunter verbirgt sich natürlich auch ein psychohygienischer Effekt. In einer Lauftrance purzeln die Gedanken losgelöst durchs Gehirn, springen umher, fließen aus dem Innersten heraus. „Stream of consciousness“ heißt das in der Literatur, „Bewusstseinsstrom“ auf Deutsch. Und genau so ist es. Ohne Zusammenhang und Vorwarnung sprudelt es, tauchen Ideen und Lösungen auf, neue Perspektiven auf alte Situationen. War das nicht einst der Katalysator meiner Laufbegeisterung? Wo war dieses Gefühl der Leichtigkeit, Zufriedenheit nur über die Jahre? Sicher, es war da, aber in einer anderen Intensität und oft genug stand vor dem Schuhbandbinden ein imperatives „muss“ und nicht ein dankbares „darf“. Wie schön wäre es doch, wenn wir ein bisschen Gestern ins Morgen hinüberretten könnten. In die Zeit, die wieder kommen wird, mit ihren Wettkämpfen und Trainings­plänen und dem Alltagstakt.