Maximale Leistung oder doch feinfühliger Schub im asketischen Paket? Der Markt der E-Motoren ist groß und vielseitig, kann aber mit etwas Wissen um die eigenen Anforderungen jeden Gusto bedienen.

Lukas Schnitzer
Lukas Schnitzer

Brachialer Schub, mächtig Drehmoment und gefühlt immer noch ein paar Newtonmeter in Reserve. Am anderen Ende des Spektrums kaum spürbare – aber natürlich sehr wohl wahrnehmbare – Unterstützung, beinahe so, als hätte man sich für die Tour die Beine eines fitteren Kollegen geliehen. E-Mountainbike ist gleich E-Mountainbike? Von wegen! 

Denn so wie sich die Bike-Kategorien in ihren Stärken und Schwächen unterscheiden, so haben auch die unterschiedlichen Motoren-Konzepte, aber auch -Hersteller, ihre ganz spezifischen Eigenarten, was Ansprechverhalten des Motors und die Charakteristik der Kraftentfaltung und Unterstützung betrifft. Die Unterschiede sind in der Praxis mitunter gravierend, eine Probefahrt inklusive fachkundiger Beratung daher Pflicht. 

Relativ flächendeckend scheint sich am Mountainbike-Sektor das Mittelmotorkonzept durchgesetzt zu haben. Mit zentral und tief im Bike konzentriertem Schwerpunkt bietet die Kombination aus Motor im Tretlagerbereich und Akku im Unterrohr viel Fahrsicherheit mit berechenbarem Handling. Varianten mit Nabenmotor finden am E-Bike ob der höheren ungefederten Masse an den Laufrädern eigentlich aktuell kaum Anklang, sind eher am Rennrad- und Gravelsektor (und somit auch wieder abseits asphaltierter Wege) anzutreffen.

Ein Konzept für jeden Geschmack
Seit dem Aufkommen der ersten praktikablen E-MTBs hat sich viel getan. Claus Fleischer (Bosch), Roland Riedel (Brose) und Johann Hwang (Shimano) erkennen heute unter E-Mountainbikern recht unterschiedliche Vorlieben und Präferenzen. Die einen, so die Insider, bevorzugen leichte E-Mountain­bikes, möchten beispielsweise mehr Eigenleistung über die Pedale ins System einbringen, um ihre Fitness zu steigern. Andere finden mehr Motorleistung und eine höhere Akkukapazität, etwa für längere Ausfahrten oder Touren mit vielen Trails, wichtig. Fleischer rät daher, den eigenen Einsatzzweck kritisch zu hinterfragen und seinen Radkauf danach zu orientieren. Welche Charakteristik zum eigenen Fahrstil passt, lässt sich am besten auf einer Probefahrt klären. 

Auch wenn die Leistung der Motoren variiert und die Akkukapazitäten schwanken – grob lassen sich moderne E-MTBs in, wie es Michael Forstinger von Nox Cycles ausdrückt, „Power-“, „Performance-“ und „Minimal-Bikes“ unterscheiden. Erstere meinen kräftige und reichweitenstarke Systeme vom Typ Sachs oder TQ mit 112 respektive 120 Nm Drehmoment, Zweitere die Kassenschlager vom Schlage eines Panasonic GX Ultra, eines Bosch Performance Line CX, Shimano EP8, Brose Drive S mag., Yamaha PW-X3 oder Specialized 2.2 mit 600 bis 750 Wh Kapazität und bärigen Drehmomenten um die 80 bis 90 Nm. Drittere meinen die gerade im Aufschwung befindlichen leichten Konzepte mit deutlich reduzierten Drehmomenten von 35 bis 65 Nm und oftmals kleineren Akkus. Hier spart man schnell drei bis sechs Kilogramm an Gewicht und tauscht diese gegen ein agileres Fahrverhalten samt einem Plus an sportlichem Anspruch. Ein Fazua Ride 50 Evation/Trail oder Ride 60 sticht beispielsweise in diese Ecke, aber auch der Specialized 1.1 SL wildert in besagtem Revier.

Minimal, Performance  und Power
Für Michael Forstinger haben alle Konzepte ihre Vor-, aber auch Nachteile. Die „Power-“ und „Performance-Bikes“ mit vollem Drehmoment und großem Akku meistern steile Anstiege problemlos, bieten genügend Reserven für ausgedehnte Touren. Außerdem ein klarer Vorteil: Wer Leistung und Reichweite hat, der kann diese zwar nützen – muss es aber nicht. Je nach gewählter Unterstützungsstufe sind die Bikes dadurch enorm vielseitig und bestechen auf der Abendrunde genauso wie bei Mehrtagestouren. Und auch für Hwang ist die hohe mögliche Reichweite ein großes Plus, steht das Konzept für eine sehr breite Zielgruppe. 

Außerdem kommen die Räder oft mit großen Displays und sinnvollem Zubehör wie Licht zu den Kunden. „Allerdings“, gibt Forstinger zu bedenken, „muss man die Motorpower handeln und dosieren können.“ Hinzu kommen dem höheren Gewicht geschuldet längere Bremswege, ein kräftezehrenderes Fahrverhalten auf langen Downhilltrails und ein höherer Verschleiß. (Optionale) Ersatz-Akkus mit 500 Wh und mehr machen sich im Rucksack deutlich bemerkbar und das hohe Systemgewicht von gerne mal 25 kg und mehr sorgt auch für eine gewisse „Unhandlichkeit“ bei Tragepassagen oder beim Transport im  Kofferraum.

Für die Gattung der „Minimal-Bikes“ spricht laut Forstinger ein sehr natürliches Fahrverhalten nahe am klassischen Mountainbike. Die Räder gehen tendenziell deutlich agiler und wendiger ans Werk, ihr Antrieb zeigt sich in der Regel geräuschärmer. Außerdem sind die Räder unauffällig, mitunter vom Laien gar nicht als E-Bike erkennbar. Hwang sieht in den Rädern eine gezielte Weiterentwicklung für eine recht spezifische Zielgruppe. Bergauf ist in dieser Klasse dafür immer ein gekonntes Zusammenspiel aus Muskelkraft und Motorunterstützung nötig. Außerdem sind die Räder (noch) tendenziell teurer, sprechen aber auch eher die sportive Kundschaft auf der Suche nach ein wenig Unterstützung an den härtesten Anstiegen an. Die Motoren, so Hwang, fallen zwar kompakt aus und sparen durch das niedrige Drehmoment Strom – bieten aber auch deutlich weniger Unterstützung. 

Die Frage nach dem „wie viel“ bei Reichweite und Drehmoment lässt sich laut Broses Roland Riedel aber auch im Jahr 2022 am besten bei ausführlichen Probefahrten beantworten. „Mit einem ‚Power-Bike‘ ist man immer auf der sicheren Seite, kann je nach Unterstützungsstufe die gesamte Bandbreite von ‚gemütlich‘ bis ‚sportlich‘ ausnützen. Mit einem ‚Minimal-Bike‘  marschiert man grundsätzlich rein in die sportliche Richtung“, fasst Forstinger zusammen.

Endlos Power oder ein kleiner Schubs für die steilsten Anstiege auf Tour? Konzepte gibt es für jeden Anspruch.

Range-Extender und smarte Features
Zusätzlich zum obligaten Standardakku bieten viele Hersteller optionale Zusatzakkus, sogenannte Range-Extender. Anders als Tausch­akkus müssen diese nicht im Rucksack transportiert werden, sondern finden am Rahmen Platz und sind direkt ans System angeschlossen. So lassen sich wahre Reichweitenmonster von teils jenseits der 1100 Wh schaffen. Hersteller wie Specialized, BH, Mahle oder Fazua bieten für ihre „asketischen“ E-Bikes aber auch Range- Extender im Trinkflaschenformat. Diese erweitern die Gesamtkapazität um 160 bis 200 Wh und können je nach Bedarf auch zu Hause bleiben. 

Der besondere Clou an Fazua? Die Antriebe der deutschen Spezialisten lassen sich großteils aus dem Rahmen entfernen. Eine eigene Abdeckkappe verbirgt dann die entstandene „Lücke“ und das Bike verliert auf einen Schlag 3,3 Kilogramm an Gewicht.

Trends
Fleischer und Hwang sehen in naher Zukunft vor allem in den Bereichen Sicherheit und Connectivity Potenzial. Mit smarten Systemen von ABS bis Crashsensor will man das E-Bike optimieren, setzt auf noch bessere Integration der digitalen Welt. Forstinger sieht nach wie vor einen Trend hin zur maximalen Power bei minimaler Baugröße und eine große Zukunft für „Minimal-Assist“-Systeme, für Hwang und Riedel steht vor allem eine Steigerung der Effizienz im Fokus.