Pulver statt Hundertstel. Wie aus dem Ski-Weltcupsieger ein leidenschaftlicherer Skitourengeher wurde. Stephan Görgl sucht die Stille in den Bergen.

von Christoph Heigl
Hoch über Innsbruck. Ein Speicherteich. Ein paar Jausentische. Ein Tag wie aus dem Tiroler Tourismusprospekt und eine Aussicht zum Niederknien. „Eins, zwei, drei ...“ Stephan Görgl pumpt 50 Liegestütze auf einem der Holztische. „Die mache ich jeden Tag vor dem Frühstück“, sagt er, „heute habe ich sie vergessen.“ ­Görgl hat einen Rauschebart, wird bald 40, er ist topfit. „Ich war immer ein leidenschaftlicher Trainierer, aber die beinharte Knochenarbeit im September und Oktober geht dir an die Nieren. Jetzt habe ich den Luxus, dann zu starten, wenn der erste Schnee fällt.“ Görgl entschleunigt, sein Blick in die Berge hat philosophische Züge. Das alpine Skirennfahren hat er komplett hinter sich gelassen, als er vor fünf Jahren („Der 12.12.12 – das hat gepasst“) seine Karriere beendete und seine brettharten Rennski umgehend beim Servicemann abgab. „Ohne voll im Training zu stehen, sind Rennski unfahrbar. Jetzt habe ich normale Serienski, die reichen für 95 Prozent von dem, was ich fahre.“ Und die restlichen fünf? Es kribbelt nicht mehr, gesteht er. Den Rennsport verfolgt er wie beiläufig. „Manchmal geht sich ein zweiter Durchgang vor dem TV aus, sonst bin ich viel lieber selbst draußen.“ Görgls schönste Erinnerungen an den Rennsport liegen auf der Hand, sein erster Weltcuspieg beim Super-G in Beaver Creek 2004. „Das war wie aus heiterem Himmel. Ich bin sehr dankbar, erlebt zu haben, wie es sich anfühlt, einmal der Beste der Welt zu sein.“

ANRUF AUF DER SKITOUR
Doch auch ein zweites Bild aus dieser Saison flasht in seiner persönlichen Hitparade sofort auf. „Ich war mit Freunden auf meiner allerersten Skitour, ein Traumtag, genau am Gipfel vom Vorderen Brandjochkreuz bei Innsbruck. Mein Handy war auf lautlos und als ich nachschaue, habe ich fünf verpasste Anrufe von Cheftrainer Toni Giger. Er teilte mir mit, dass ich im RTL nicht im WM-Team bin. Dabei war ich in Hochform! Ich hab die Abfahrt vom Berg genossen und so reagiert, wie es für mich charakteristisch ist: mit drei Laufbestzeiten in Folge.“ Skitourengehen hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Doch zuerst galt es ein Problem zu lösen: Der Ex-Racer fand kein geeignetes Material. „Abfahrtsorientierte Ski und Schuhe, so wie ich es mir vorstellte, gab es nicht, etwa einen Rennsport-Vierschnaller mit Gehfunktion.“ Über seine Kontakte zu Nordica durfte er dann selbst mitentwickeln. Im Strider-Schuh und dem Navigator-Ski findet man nun auch Görgls Ideen wieder. Und damit fühlt sich der Ex-Weltcupfahrer pudelwohl. „Ich fahre die Ski in Überkörperlänge und 85 bis 105 Millimeter Mittelbreite. Damit kann ich auch auf jeder Piste fahren und bin für alle Bedingungen gerüstet, außer Eis.“ Federleichte Tourenski, wie sie viele Tourengeher lieben, sind nicht sein Ding. Er braucht schwere, stabile Bretter. „Das eine Kilo Mehrgewicht spüre ich beim Aufstieg nicht, aber bei der Abfahrt macht das Kilo einen Riesenunterschied aus.“
RUHE, WEITE UND HERZKLOPFEN
Görgl ist staatlich geprüfter Skilehrer und Skiführer, hat eine One-Man-Skischule, einen mobilen E-Bike-Verleih und sein Abenteuerprogramm namens „Görgl Intense“. Dabei verspricht er laut Website „außergewöhnliche Erlebnisse für außergewöhnliche Menschen“ und ein Erlebnis, „das sich auf keinem Foto festhalten lässt“. Ging es bei ihm früher um Hundertstelsekunden im Weltcupzirkus, so stehen jetzt „Ruhe, Weite und Herzklopfen“ auf der Agenda. Naheliegend, dass so jemand keinen Schreibtischjob hat. Görgl denkt in Projekten, nur rund zwölf pro Jahr. „Der Rest ist Leben“, erzählt er. Im Winter ist Görgl so oft wie möglich in den Bergen Westösterreichs, Italiens und der Schweiz, macht mit Kunden Skitouren und Heliskiing. „Es hat mich von Anfang an gefesselt. Skitouren sind ideal, um von den Massen wegzukommen. Wer mit mir am Arlberg unterwegs ist, steht fünf Tage nach dem letzten Schneefall immer noch im Pulverschnee. Das halten viele für unmöglich.“

"Ein Kilo Mehr­gewicht beim Ski spüre ich beim Aufstieg nicht. Aber in der Abfahrt macht das Kilo einen Riesenunterschied aus"

DIE GUTE, ALTE SKITECHNIK
Der gebürtige Steirer liebt die Vielfalt. „Ich habe meine Felle immer im Rucksack und kann flexibel reagieren.“ Seine in vielen Wintern feingeschliffene Weltcup-Fahrtechnik legt er dann kurz beiseite. „Mit Carving kannst du wenig anfangen, wenn du vor einem nicht einfach zu fahrenden Tiefschneehang stehst. Da brauchst du die gute alte Technik: enge Skiführung, Hoch-Tief-Bewegungen, klassisches Skifahren – das versuche ich auch, meinen Kunden zu vermitteln. Die Merkmale der alten Schule gehen verloren, wenn alle nur noch schnell über präparierte Pisten rasen wollen.“ Der Wahl-Innsbrucker ist kein Typ, der den Massentourismus befeuert. Aber den Trend, dass immer mehr Menschen und Hobbysportler in der Freizeit aus den Städten in den Berge strömen, sieht er positiv. „Ich begrüße diesen Boom, denn die Berge sind ein schier unbegrenztes Eldorado. Ich habe keine Sorge, auch in Zukunft meine einzigartigen Erlebnisse am Berg spüren zu können. Erstens gibt es noch genug Hotspots und zweitens ist es eine Frage der Stoßzeiten. Wenn ich mit Leuten am Berg unterwegs bin, hat einer die größte Gaudi – und das bin ich!“
DIE ENTSCHEIDUNG, UMZUDREHEN
Wichtig sei nur, mahnt Görgl, dass Neulinge ihre ersten Erlebnisse gesichert und mit erfahrenen Guides machen, denn Sicherheit sei die oberste Prämisse. „Es gab schon genug Situationen, wo ich wieder umgedreht habe, sei es wegen der Wetterlage, akuter Lawinengefahr oder einfach weil die Zeit knapp wurde. Diese Erfahrungen haben mich gestärkt.“ Natürlich trägt Görgl die komplette Sicherheitsausrüstung (Schaufel, Sonde, Pieps, Erste Hilfe) mit, auch einen Lawinenairbag verwendet er. „Aber der Airbag ist nie eine Entscheidungshilfe! Wenn der notwendig ist, habe ich bis dahin alles falsch gemacht.“ Rennerlebnisse braucht der 39-Jährige nicht mehr. „Ich bin gleich nach meiner Karriere als Local Hero beim ‚Weißen Ring‘ am Arlberg gestartet, da hat’s mich zwei Mal zerlegt. Ans Limit gehen wird bei mir nicht mehr stattfinden. Auch mein Körper braucht das nach vielen Jahren Spitzensport nicht mehr.“ Und so hat Stephan Görgl sein berufliches Zuhause wieder in den Bergen gefunden. Bei Skitouren. Und auch bei den 50 Liegestützen.
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