Angst ist keine Krankheit, sondern bloß ein Gefühl. Deshalb gilt beim Klettern: locker bleiben!

Von Herbert Ranggetiner


Sind Kletterer ein wildes, angstfreies Volk? Nein, das stimmt so wohl nicht. Angst ist ja auch gar kein Zeichen von Schwäche oder sonst etwas Schlechtes. Für mich ist Angst ein Grundgefühl wie Freude oder Trauer. Nicht mehr und nicht weniger. Dieses Gefühl soll man gar nicht ausschalten – sehr wohl aber den Umgang mit ihm erlernen.

Vor Kurzem fielen mir beim Training in der Kletterhalle zwei junge Frauen auf: Eine von ihnen wirkte sehr nervös und hektisch. Mir war schnell klar, dass ihr Puls nicht meinetwegen auf fast 180 war. Ich stellte mich vor und sie erklärte mir, dass sie eine leidenschaftliche Kletterin sei, jedoch extreme Angst vor dem Stürzen habe. Mein spontanes Angebot: Ich nehme mir eine Stunde Zeit, mache mit ihr ein Sturztraining und helfe ihr dabei, angstfreier zu klettern.

Es überraschte mich, dass sie sofort einwilligte und mir, einem eigentlich Fremden, vertraute. Wir übten kontrolliertes Abspringen aus der Route; ein kurzer Sturz, dann immer weitere Stürze – alles immer aus einer sicheren Absprunghöhe. Schließlich wurde aus ihrer Angst ein gesunder Respekt und ihre Bewegungen veränderten sich in Richtung selbstbewusstes, genussvolles Klettern.

Egal, was bei euch beim Klettern Angst auslöst: Die Möglichkeit zu stürzen, die Höhe oder die Schwierigkeit. Mit allem kann man besser umgehen lernen. Angst vor dem Sturz haben die meisten deshalb, weil sie wissen, er wird hart und es tut weh. Hier hängt viel vom Seilpartner und vom verwendeten Equipment ab. Außer beim Hallenklettern oder im Toprope mag ich zum Beispiel keine selbstblockierenden Sicherungsgeräte. Die Dynamik eines Seiles wird oft total überschätzt – dynamische Stürze sind vielmehr Aufgaben des Sicherers. Ein entsprechendes Gerät, das dynamisches Sichern auch zulässt, dünne Lederhandschuhe und ein bewusstes Sturztraining, um den Ablauf und das Handling zu trainieren – diese Punkte sind alle Teil der Lösung.

Das Mädel oder den Typen am anderen Ende des Seiles nennt man nicht umsonst Seilpartner – mit Betonung auf das Wort ,Partner'. Also: Sei dir beim Sichern immer bewusst, dass du die Verantwortung für ein Leben trägst. Es gibt auch Kletterer der Gattung ,cool und schlau', die während des Sicherns zum Beispiel SMS schreiben, da sie ja sowieso mit einem selbstblockierenden Gerät arbeiten! Wenn ich das sehe, krieg ich Blutdruckwerte jenseits von Gut und Böse.

Richtig sichern und stürzen muss ständig trainiert werden, das ist ein essenzieller Teil des Kletterns. Nur Sicherheit, Routine, Wissen und vor allem Vertrauen können aus der Angst ein genussvolles, konzentriertes Klettern entstehen lassen. Auch wenn du mit selbsternannten „Spezialisten" kletterst – hinterfrage alles, nimm nichts einfach nur so hin, das dir nicht einleuchtet.

Bei meinen seilfreien Begehungen hatte ich nie Angst – sondern immer nur in der Vorbereitungsphase. Dass man sich freiwillig und bewusst in eine lebensbedrohliche und nicht alltägliche Situation begibt, ist zwar erstens unlogisch und macht zweitens definitiv Angst. Da aber diese Entscheidung immer mein freier Wille ist und ich weiß, ich kann und ich will das, mache ich mir die Angst zum Freund. Kontrollierte Angst kann auch wach machen, sie schärft deine Sinne, deine Reflexe, du bist voll im Hier und Jetzt und dein Körper ist pure Energie! Das Gegenteil ist die lähmende Angst. Wenn sie die Oberhand gewinnt, setzt sie jedes normale Denken und Handeln außer Kraft.


Video: Herbert Ranggetiner - Mensch und Fels im Ausnahmezustand


Gehe der Angst also nicht aus dem Weg, sondern ihr auf den Grund. Denn meist ist sie unbegründet und mit einfachen Mitteln auf ein kontrollierbares Maß zu reduzieren. Akzeptiere sie als einen Teil des Lebens – und gerade deshalb gilt: träume, handle und lebe bis in deine letzte Faser!

Die meisten leben stattdessen in ständiger Angst, dass ihnen jemand das im Überfluss angehäufte Materielle wegnehmen könnte, und investieren ihre ganze Energie und Zeit in den Versuch, das zu verhindern. Gratulation, dazu wünsche ich viel Vergnügen: Wenn das euer Leben bestimmt, dann kann ich euch leider auch nicht weiterhelfen ...

Kletterprofi Herbert Ranggetiner / Bild: KK

Der Kletterprofi

HERBERT RANGGETINER, 47, aus Mühlbach im Pinzgau (Sbg), ist Profikletterer und einer der besten Extremkletterer Europas. Mehr als 600 Lines europaweit wurden von ihm als Erstem durchstiegen. Ein Porträt mit spektakulären Bildern bietet die (nicht mehr ganz aktuelle) Kurzdokumentation "Fels und Mensch im Ausnahmezustand" (siehe oben).

Im SPORTaktiv Magazin gibt Herbert nun regelmäßig einen Einblick in die faszinierende, für viele aber auch unbegreifliche Welt des Freikletterns. Dabei nimmt er sich in jeder Ausgabe eines bestimmten Themas an, erklärt Techniken und Abläufe – und lässt den Leser dabei auch an seiner ganz speziellen Lebensphilosophie teilhaben.


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