Gibt es für dich den „Mythos Marathon“?
Ehrlich gesagt, für mich zählt der Mythos Olympia. Es war ein Schlüsselerlebnis, als ich 1984, mit neun, meinen Landsmann Markus Ryffel zur Silbermedaille in Los Angeles laufen sah. Der Marathon hat sich bei mir ab 1999 ergeben, weil ich auf langen Strecken talentiert war.

Trotzdem: Was ist so spezielles dran am Marathonlaufen?
Kein Lauf gleicht dem anderen! Nach 22 Wettkampf-Marathons kann ich sagen, dass das wirklich stimmt. Du weißt vorher nie, wie du dich fühlen wirst, und wann es beginnt, weh zu tun.

Und es tut garantiert jedesmal weh – auch Spitzenläufern?
Klar. Schmerzen sind praktisch im Startgeld inkludiert.
Das kennen wohl auch viele Hobbyläufer nur zu gut.
Ja, und es macht die Sache doch auch für sie interessant, dass es den Profis nicht anders geht. Mehr noch: Man misst sich im selben Rennen mit den Besten der Welt. Als würde man als Hobbytennisspieler in Wimbledon antreten ...

Stellt sich die Frage: Warum tut man sich Schmerzen an?
Ich selbst finde diese Ungewissheit ­enorm spannend: Den mentalen Aspekt eines Marathons erlebt man bei jedem Rennen neu – man muss immer wieder neu kämpfen und neue Strategien entwickeln, um zu einem Erfolg zu kommen. Umso schöner, wenn es gelingt.

Klingt kopflastig – welche Rolle spielt also der Kopf bei dir?
Eine ganz entscheidende – ohne dass ich dafür einen Mentaltrainer brauche. Diese Dinge habe ich mir selbstständig erarbeitet. Im Trainingsprozess versuche ich, Bilder vor meinen Augen aufzubauen. In einem harten Training denke ich zum Beispiel an meinen Rekordlauf in Tokio­ 2008 und versuche, die Gefühle von damals wachzurufen. Wenn es dann im Rennen wehtut, habe ich wieder diese Bilder im Kopf. Am Renntag lasse ich nur positive Gedanken zu.

Das würden wahrscheinlich viele gerne können. Kannst du noch etwas mehr verraten?
Wenn ich wollte, könnte ich doch immer einen Grund finden, warum heute nicht mein Tag ist. Und viele machen es genau­ so, sie haben die Ausreden schon bereit, bevor sie an der Startlinie stehen. So ein Denken ist einfach nicht meine Welt.

Du hattest 2009 eine Lungen­embolie – und bist 2010 Europameister geworden. Hat dir da auch deine positive Einstellung geholfen?
Das war schon eine arge Grenzerfahrung, wobei man nicht wusste, wie es ausgeht. Nachdem aber klar wurde,
dass nicht der Sport die Ursache war, sondern mir gerade meine körperliche Fitness geholfen hat, die Sache zu überleben, war es keine Frage, dass ich weiter Spitzensport betreibe. Wenn ich mir den EM-Lauf anschaue, war ich dadurch wahrscheinlich wirklich gereift und mental stärker als je zuvor. Trotzdem: Diese „Erfahrung“ wünsche ich niemandem.