Als Weltstar gefeiert, dann tief gefallen – heute­ geht Jan Ullrich, der lange Zeit die Öffent­lichkeit mied, mit Hobbyradsportlern gemeinsam auf Tour. SPORTaktiv gab er in einem Rennradcamp in Kärnten eines seiner seltenen Interviews.


Jan Ullrich war im Mai Testimonial und Zugpferd bei einem Rennradcamp am Kärntner Klopeiner See. Nach seinem abrupten Karriereende 2007 zog sich der deutsche Tour de France-Sieger des Jahres 1997 fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurück. SPORTaktiv-Geschäftsführer Alfred Brunner war bei dem Rennradcamp live dabei – und nutzte das Zusammentreffen für ein Exklusiv-Interview mit Ullrich. Zehn Jahre nach seinem Karriereende und 20 Jahre nach dem Tour de France-Erfolg erzählt Jan Ullrich davon, wie er aus seinem persönlichen Tief wieder herausgefunden hat; er spricht über seine ungebrochene Leidenschaft fürs Rennradfahren und darüber, was er den Hobby-Rennradfahrern in den Camps mit auf den Weg gibt.

Hi Jan, du wohnst seit einem Jahr auf Mallorca. Was macht Jan Ullrich eigentlich heute?
Nach vielen Jahren am Bodensee in der Schweiz wurde der gesamten Familie im Winter der Nebel zu viel und wir beschlossen, mit Sack und Pack nach Mallorca zu ziehen. Dort gefällt's uns mittlerweile so gut, dass wir nun fix ein weiteres Jahr verlängern. Im Alltag steht die Familie im Fokus, außerdem bin ich bei einer Gesundheitsfirma für Höhenkammern beteiligt. Weiters bin ich bei vielen Radcamps auf der ganzen Welt präsent.

Seit einigen Jahren fährst du Hobby-Radmarathons wie den Ötztaler Radmarathon. Warum juckt dich das Rennfeeling wieder?
Eigentlich hat mich mein Freund Frank Wörndle (Anmerkung: Alpin­ski-Weltmeister im Slalom 1987) im Jahr 2011 überrumpelt. Frank hat mich aus meinem tiefen Loch nach dem Karriereende 2007 rausgeholt und mich ohne mein Wissen beim Ötztaler angemeldet. Vor meinem ersten Vorbereitungsrennen hatte ich solche Angst vor der Öffentlichkeit, dass ich mich unter dem Namen „Max Kraft" anmeldete. Zwischen der absoluten Passivität und meinem ersten Ötztaler Radmarathon lagen nur sieben Wochen, was bei über 5.000 Höhenmetern dazu führte, dann doch wieder ordentlich zu trainieren. Heute fahr ich mit großer Begeisterung rund 10.000 Kilometer pro Jahr Rad, selten länger als drei Stunden, dafür sehr regelmäßig. Als einziges Hobbyrennen im Jahr fahr ich den Ötztaler. Dies auch und vor allem mit dem Hintergrund, dass ein fixiertes hohes Ziel automatisch einen Motivationsschub im Training ergibt. Ansonsten sind mir die Hobbyrennen aufgrund der Hektik und der vielen Stürzen zu gefährlich.

Beim Ötztaler ­gehört dir die schnellste Abfahrtszeit am letzten Teilstück vom Timmelsjoch runter nach Sölden. Ist das die Freude am Fahren, deine überlegene Technik oder bist du lebens­müde?
Eindeutig die Freude am Fahren. Aufwärts will ich nicht mehr voll ans Limit gehen, aber abwärts steckt der Profi immer noch in mir. Heute fahr ich generell gerne hoch, um den Spaß abwärts zu genießen. Übrigens: Beim Ötztaler zieh ich den Hut vor jedem Finisher, das ist eines der schwersten Rennen überhaupt.

Bernd Hornetz wurde 2016 mit 48 Jahren ältester Sieger beim „Ötz­taler". Glaubst du, du könntest heute mit dem Sieger mithalten?
Ja, mithalten schon, weil in mir der „Memoryeffekt" der vielen Profi-Lebenskilometer steckt. Aber diese Frage stellt sich mir überhaupt nicht, da meine Motivation eine völlig andere ist. Ich habe meinen persönlichen Mittelweg gefunden, möchte einfach fit bleiben und dafür sind Radfahren und Skifahren meine beiden Hauptsportarten.

Du warst früher bekannt für deinen Winterspeck und deine schlechte ­Fitness zu Jahresbeginn. Was waren deine Trainingsmethoden, um in möglichst kurzer Zeit wieder topfit zu sein?
Ich hab im Winter immer lange Pausen gebraucht, vor allem für den Kopf. Das Resultat meiner meist vierwöchigen Pausen, des geringeren Stoffwechsels und meines sehr geringen Ruhepulses von 30 waren dann oft acht Kilo mehr als in Hochform. Wichtig war mir im Frühjahr immer der Fokus auf eine zweimonatige Vorbereitung, in der das Training kontinuierlich gesteigert wurde. Das Mehrgewicht sorgte zu Jahresbeginn bei Bergeinheiten sogar für einen positiven Trainingseffekt. Weniger Essen, null Alkohol und viel Umfangtraining waren die drei wichtigsten Elemente, um am „Tag X" in Form zu sein.

Wie hat sich dein Gewicht im Vergleich zum Profidasein verändert?
Zehn Kilo mehr sind es schon, konkret 82 statt früher 72 Kilo. Wobei: Mit 80 Kilogramm fühl ich mich sehr, sehr fit und wohl.

Wie schon eingangs erwähnt, ist dein Wohnort seit heuer das Radparadies Mallorca. Welche Radregionen gehören zu deinen persönlichen Topspots?
Ich liebe schönes Wetter, Berge und vor allem Wasser, da ich selbst an der Ostsee am Wasser aufgewachsen bin. Spontan fallen mir als Traumspots Kapstadt, Mallorca oder hier Kärnten mit dem Wörthersee oder dem schönen Klopeiner See ein.

Du bist bei vielen Radcamps wie hier am Klopeiner See; was taugt dir daran?
60 bis 80 Tage pro Jahr bin ich weg von zu Hause und leite rund zehn Radcamps in Frankreich, Österreich, Spanien, Südafrika und den USA. Dort gefallen mir vor allem die lockere Atmosphäre, interessante Teilnehmer, neue Freundschaften und vor allem viel Geselligkeit. Gute regionale Kulinarik ist mir als Gourmet und Rotweinliebhaber sehr wichtig.

Was sagst du zur innovativen Materialentwicklung im Rennradbereich?
Ich finde jeden Fortschritt gut, mein Pinarello Siegerrad 1997 wog ja noch 8,8 Kilo. Sehr begeistert bin ich vom Werkstoff Carbon, den kabellosen Schaltungen und den Aero-Laufrädern. Über meinen neuen Radsponsor Rose bekomme ich demnächst auch erstmalig ein Rennrad mit Scheibenbremsen, danach kann ich auch bei diesem Thema mitreden. Profis brauchen Scheibenbremsen eigentlich nicht, Hobbyfahrer sehr wohl, weil diese anders bremsen. Die Industrie wird die Scheibenbremsen sicher noch stärker in den Markt drücken. Auch eBikes finde ich super. Im Alltag lege ich viele Wege wie zum Beispiel zum Friseur am eBike zurück. Bei Ausfahrten am normalen Rennrad begleitet mich meine Frau immer wieder mal am eBike, was total Spaß macht. Bei meinem eBike muss ich schmunzeln: früher konnte ich 500 Watt selbst treten, heute hat mein eBike einen 500 Watt-Motor.

Auf deiner Homepage steht als Jugendidol „Miguel Indurain"; welcher Radprofi gefällt dir heute am besten?
Valverde beeindruckt mich immer wieder mit seinem Siegerwillen wie heuer in Lüttich, Contador mit seiner aktiven Fahrweise. Weltmeister Peter Sagan punktet mit unglaublicher Coolness und seinen geilen Attacken.

Verfolgst du den aktuellen Profiradsport noch intensiv?
Klar, ich bin ein großer Radsportfan. Abends gucke ich meist die Zusammenfassungen an, echte Königsetappen fesseln mich auch zwei bis drei Stunden live vorm Fernseher.

Danke Jan fürs Gespräch.
Bitte gerne, wir beide fahren jetzt aber noch zusammen eine Runde!

 

Jan Ullrich Portrait
Jan Ullrich

geb. 2.12.1973, Sieger Tour de France 1997 und 5 x Zweiter, Sieger Vuelta 1999, Olympiasieger Straße 2000, 2 x Weltmeister im Zeitfahren. Wohnt seit 2016 auf Mallorca, verheiratet, 4 Kinder.

Web: www.janullrich.de, www.janullrichcharity.com