So schnell können 42,195 Kilometer vergehen. Auch wenn man nicht Kenenisa Bekele heißt, ist der Berlin-Marathon ein einmaliges Erlebnis. Perfekte Organisation, 41.283 Teilnehmer, eine Million Zuschauer und Orte mit Geschichte lassen die Glücks- hormone sprudeln. Langeweile kommt auch nach mehr als viereinhalb Stunden nicht auf.
Von Klaus Molidor
Ein weißer Lieferwagen hält neben dem Berliner Reichstag, zwei Männer steigen aus und öffnen die Hecktüren. Mit einem Schlag wird mir klar, was da noch auf mich zukommt an diesem Wochenende. Fritz und Uwe laden einen blau-weißen Aufsteller aus dem Auto, darauf steht: „42 km". Während die beiden das Trumm hinter das Brandenburger Tor stellen, fahren wir weiter zum Holocaust-Mahnmal – und es brodelt aus einem Lautsprecher: Das ist Hendrick, der Guide unserer Segway-Tour, der uns über Funk die Stadt erklärt. Schließlich will man auf einer Marathonreise ja auch was sehen von der Stadt, dabei aber gleichzeitig auch die Beine schonen, für das, was kommt.
Welche Dimensionen das, was da kommt, hat, zeigt sich zum ersten Mal schon drei Stunden davor auf der Marathonmesse. Eine halbe Stunde vor Einlass warten im Schatten des Technischen Museums schon Hunderte Läufer auf ihre Startnummern. Die stellen sich zwar nicht in angloamerikanischer Tradition brav in Reih und Glied an, schnell geht es aber trotzdem. Dank perfekter Organisation und Aufteilung des Anmeldeprozesses in verschiedene Stationen: Am Eingang werden sechsspurig Startnummernpass und Ausweis kontrolliert, dann bekommen alle das Startsackerl mit Gutscheinen, Duschgel, Energy-Drink und Schwamm umgehängt. Weiter geht es in die Halle, in der jede Menge Schalter geöffnet sind. Chip kontrollieren, Startnummernpass abgeben, schwupp hast du die Nummer in der Hand und mit einem Berlinerischen „Allet Jute" ist fünf Minuten nach Einlass der organisatorische Teil der Reise erledigt. Man wird halt nicht ein „Major Marathon", der drei Viertel seiner mehr als 40.000 Startplätze verlosen muss, wenn die Organisation nicht perfekt läuft.
Schon hier spürt man auch die globale Dimension dieses Laufs. 122 Nationen sind vertreten. Neben mir in der Warteschlange tönt es spanisch, französisch, russisch, vor mir steht ein Pärchen aus Südafrika, hinter mir kichern zwei Japanerinnen für ihr Selfie in die Handykamera und dazwischen immer wieder: Berliner Schnauze. Die klassische Distanz macht 41.283 Menschen aus allen Teilen der Welt zur globalen Gemeinschaft.
Video: Highlights vom Berlin Marathon 2016
ZWISCHEN OST UND WEST
Und das gerade in einer Stadt, die jahrzehntelang als Symbol für Trennung galt; eine Stadt, von der aus eine der dunkelsten Geschichten der Menschheit geschrieben wurde. Wahrscheinlich macht auch das die Faszination dieses Marathons aus, der Lauf durch Ost und West und ganz am Ende durch das Brandenburger Tor – von den Steinen zu den Sternen quasi. Nach knapp 42 Kilometern körperlicher Anstrengung ist alles gut, wenn es unter dem Wahrzeichen der Stadt durchgeht.
Aber so weit sind wir noch nicht. Zuerst geht es im Gedränge zum Berliner Reichstag. In den riesigen Park kommt nur, wer ein Startarmband hat – seit den Anschlägen auf den Boston-Marathon und dem Terror, der heutzutage allgegenwärtig ist, geht Sicherheit vor.
Aber auch hier: Trotz der gigantischen Dimensionen kein Stau bei der Kleiderabgabe, die in zehn Zeltblöcken logisch organisiert ist. Wie auch der Weg zu den Startblöcken. Schnell noch eine wärmende Plastikfolie geschnappt, einen Schluck Wasser genommen und raus auf die „Straße des 17. Juni". Die Sonne blinzelt durch die Bäume des Tiergartens, ganz weit vorne, unendlich weit, ragt die Siegessäule in den Himmel. Dann klatschen plötzlich 40.000 Frauen und Männer im Takt der Musik aus den Boxen – die Endorphine sprudeln.
Als es in der dritten Startwelle dann auch für mich im hintersten Teil des Startblocks losgeht, sind Kenenisa Bekele und Wilson Kipsang, die sich um den Sieg duellieren, schon bei Kilometer 12. Fraglich aber, ob sie die ersten Meter so genossen haben wie ich: Diese Massen auf der Strecke und neben der Strecke, die erste Brücke über die Spree, von wo aus man kilometerweit auf das Teilnehmerfeld sieht. Oder die vielen Bands an der Strecke. Ganz zu schweigen vom Gefühl am Bundeskanzleramt, als mir meine liebste Ehefrau zujubelt.
„Genießen", hat mein Trainer trotz allem immer wieder gesagt. „Genießen", haben Freunde, die ihr Berlin-Erlebnis schon hatten, gesagt. Und das tue ich dann tatsächlich die meiste Zeit über: genießen. Getragen vor der Masse vergehen die Kilometer wie im Flug. Auch auf der breiten Karl-Marx-Straße, auf der sich schon nach 11 Kilometern die Wadeln erstmals zu Wort melden und die Gegend mit riesigen Plattenbauten alles andere als schön ist.
Video: Berlin Marathon 2017 - Teaser
"UMDREHEN WÄRE DOOF"
Aber Trübsal blasen oder gar ans Aufgeben denken? Ist hier keine Option. Spätestens bei der Samba-Gruppe sind die Wadeln wieder ruhig, die nächste Allee kühlt den Körper wieder, unterstützt vom engmaschigen Netz an Labestationen – und einer Million Zuschauern am Streckenrand! Endgültig geschehen ist es dann um mich bei Halbzeit. „Umdrehen wäre jetzt auch doof", hat da ein junger Mann auf einen Karton gepinselt. Im herzhaften Lachen vergehen wieder Kilometer um Kilometer. Ehrfurcht dann am Rathaus Schöneberg, vor dem John F. Kennedy am 26. Juni 1963 seine berühmte „Ich bin ein Berliner"-Rede gehalten hat.
Video: Stimmung beim Berlin Marathon 2016
Über den kilometerlangen Hohenzollerndamm geht es zurück ins Zentrum bis auf den Kurfürstendamm, wo sich Designergeschäft an Designergeschäft reiht. Auf dem Potsdamer Platz, dem verkehrsreichsten Platz des Kontinents, so zwischen Kilometer 38 und 39, dämmert es mir dann: Du schaffst es bis ins Ziel.
Noch ein Schluck Tee, ein Stück Banane, rüber über den achteckigen Platz, der auch erst seit der Wiedervereinigung seine vollendete Form hat. Vorbei am Deutschen Konzerthaus, Linkskurve, Rechtskurve, Linkskurve – Unter den Linden. Der Prachtboulevard ist erreicht! Alle Mühsal ist vergessen, das Kopfsteinpflaster unter meinen Schuhen fühlt sich wie Watte an. Da ist es, das Brandenburger Tor, der Sehnsuchtsort jedes Berlin-Läufers. Tränen, Gänsehaut, Freude, alles mischt sich zu einem großartigen Gefühl, das sich bis zur Ziellinie steigert.
Das Ende? Mit der Medaille um den Hals lege ich mich ins Gras und genieße. Noch besser nur: das Wiedersehen mit der besseren Hälfte am „Family Reunion Point". Wiedervereinigung muss in Berlin einfach sein.
KLAUS MOLIDOR erlebte und erzählte für SPORTaktiv das Abenteuer Berlin-Marathon. Er bewältigte die 42,195 km in 4:40:20 Stunden, belegte damit Platz 21.135. Sieger Kenenisa Bekele lief mit 2:03:06 die zweitschnellste Zeit der Geschichte, blieb nur 6 Sekunden über dem Weltrekord. |
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