Berge, Schnee, Skifahren. So definiert sich das Winterland Österreich, das Marchfeld vielleicht ausgenommen. Österreich ist der Inbegriff des Winter­tourismus, immer weiß, alle glücklich, kein Raunzen, die folklorisierte Idylle. Schon schön das alles, aber an die Arbeit dahinter denkt keiner. Der Journalist Maximilian Brustbauer hat einen Tag auf einer Skihütte in Gerlos miterlebt und lässt hier seinen Gedanken freien Lauf.

Von Maximilian Brustbauer


Da, wo sich in einer Stunde die Touristen ihre Stöcke gegenseitig in den Rücken drücken, stehen jetzt nur die beiden Liftwarte vor ihrem Wartezimmer. „Griaß eink." Es ist Jänner, es ist halb acht Uhr morgens. Hier ist Gerlos, hier ist Skizirkus.

Tief hängender Nebel verdeckt die Bergspitzen, Stille liegt über dem engen Tal, durchschnitten nur vom Surren der Gondelbahn. Über den schwarzen Hartgummimatten hat sich vergangene Nacht Neuschnee gelegt, nicht viel, nur leicht bestreut, wie Puderzucker auf einem Germknödel. Die Pistenbullys haben erst vor einer Stunde ihre Schicht beendet. Während in den Hotels schon Ham and Eggs und Müsli gefrühstückt wird, verzehren die Raupenfahrer erst ihr Abendessen. Feierabend trifft Tagesbeginn – so hart wie sonst nur in Großstädten die Müllabfuhr auf Clubkultur.

Gerlos. Im Mittelalter war hier nur eine Passstraße für Handel. Später wurde Goldberg­bau betrieben, weswegen es beinahe Krieg zwischen Tirol und Salzburg gegeben hätte. Vor hundert Jahren dauerte es zwei Tage, um nach Mayrhofen und zurück zu kommen. Unter Schuschnigg wurde die erste Straße nach Gerlos gebaut. Damit hat alles angefangen. Vor rund 70 Jahren errichteten die Großväter die ersten Lifte, kleine Dorfwirtshäuser verwandelten sich unter den Vätern in Herbergen und sind heute die Hotelburgen der Söhne. Heute pendeln Shuttlebusse im 15-Minuten-­Takt durch das Tal.

PIONIERARBEIT
Die rauen Hände der zwei Liftwarte machen noch die anstrengenden Aufbaujahre sichtbar. Kraftvoller Händedruck. In ihren sonnengegerbten Gesichtern, mit Falten, so vielen wie die Alpen Täler haben, tragen die zwei mondäne Sonnenbrillen. Gerahmt von graumelierten Winterbärten haben die beiden Männer dieses eigene, heute schon fast verlorene, alterslose Männeralter zwischen 35 und 60 Jahren.

In der Nebelwand vor dem Eingangsbereich der Gondelbahn deuten sich Silhouetten an und noch etwas müde stapfend kommen die ersten Menschen auf uns zu. Wiedererwiderndes „Griaß eink", die kennen sich, Tag für Tag immer wieder dasselbe. Es ist kurz vor acht und das Team von „Seppi's" am Isskogel sammelt sich. 24 Menschen, die den täglichen Hüttenzauber erzeugen.

„Wir waren die Ersten hier am Berg, weil als der Lift gebaut wurde, wollte keiner rauf. Und mein Vater hat das dann eben gebaut", erzählt Josef „Seppi" Kammerlander, während sich die Angestellten auf die Gondeln verteilen. „Es gab damals da oben auch kein Leitungswasser, das haben wir in Kanistern raufgebracht. Da war es dann auch wieder mein Vater, der wochenlang im Winter rumgestapft ist und eine Quelle gesucht hat." Infrastruktur am Berg hieß do it yourself.

Auf 1.810 Metern über dem Meer sieht es etwas besser aus als im vom Nebel versteckten Tal. Berge, Berge, Berge, „da hinten ist der Großvenediger und dort ist das Kitzsteinhorn." – „Aha", suchender, nichts findender Blick, „schön!" Großes Lachen, „erkennst's leicht ned?" Tja, Berge, wohin das Auge reicht.

Während Seppi die beiden Etagen zeigt – von wegen Hütte – sind die Angestellten schon am Putzen, denn das passiert vor dem Aufsperren. Am Abend müssen alle um 16.45 Uhr ins Tal, da geht sich nur das notwendigste Wischen und Maschinenputzen aus. Staubsauger, Tische wischen, Besteck polieren und in der Küche beginnt die Gulaschsuppe leicht zu köcheln. Der typische Geruch von Winterurlaub, Germknödel mit Pommes und Grillwürstel mit Vanillesauce. Skiwasser trifft Glühwein trifft Kaffee trifft Schnaps. Nur der Begriff „süß" passt für diese Hüttenmischung.

FRÖHLICHE MENSCHEN
Die Zeit fährt mit den Köchen, den Kellnern und dem Rest der Belegschaft Schlitten und schon sind die ersten Skifahrer im SB-Bereich. Eine heiße Schokolade für die Tochter, ein kleines Bier für den Vater. „Es ist ein anstrengender Beruf, aber es ist auch ein zufriedenstellender Beruf. Die Menschen sind immer fröhlich, wenn sie zu uns kommen", sagt Anita, ­Seppis Frau, und lächelt selbst.

Obwohl mittlerweile schon Hunderte Paare Skischuhe über den roten Teppichboden rein-, Schlange gestanden und wieder rausgestapft sind, haben die Kammerlanders und ihre Angestellten eine Ruhe weg, die ansteckend ist. Der Abräumer „Aquarius", die Nummer aus dem Musical „Hair" pfeifend, tänzelt mit einem übervollen Tablett durch das Restaurant. Alles erinnert an die berühmte, ausgelutschte Metapher von der „geschmierten Maschine", aber was soll's, sie funktioniert. „Die Gäste dürfen nicht mitbekommen, wenn etwas nicht funktioniert", merkt Anita augenzwinkernd an, während sie eine fünfköpfige Familie abrechnet, deren Vater nur noch seine Brieftasche im Griff hat. „Pommes!" „Twix?" „Wo hast du das denn jetzt her? O.k., das bitte auch noch auf die Rechnung, danke."

EIN SCHNEELOCH
Gerlos hat rund 780 Einwohner und liegt auf 1.250 Metern Seehöhe. Vor zwei Jahren fielen hier 11 Meter Schnee, über den Winter verteilt, ein Schneeloch, eigentlich. Aber vergangenen Winter bekamen die Touristen bis zur ersten Jännerwoche nur schneeweiße Bänder durch grasgrüne Hänge gezeigt. Natur eben. Soll diesen Winter aber wieder ganz anders sein.

Der Betrieb rast jetzt und gibt mir einen aus, irgendwann wurde mein Notizheft gegen einen Spritzer eingetauscht. Nicht nur die Ruhe der Kammerlanders ist ansteckend. „Gesundheit!"

Sanft ist aus dem obersten Stock, da, wo der 12-mal-12-Meter-Schirm steht, der Bass zu hören. Ab 14 Uhr legen DJ Hoody und DJ Flexible auf. Seppi's ist längst nicht mehr die Skihütte mit Volksmusik. „Vor über zehn Jahren wollten wir einen neuen Weg gehen. Nicht Ischgl, nicht Mallorca, aber Feiern mit Stil."

Während im Restaurantbereich noch gesättigte Menschen auf Bänken sitzen, stehen hier schon die Ersten auf denselbigen. Die Stimmung, die früher Seppis Vater mit der Zither erzeugt hat, kommt heute von House und ein bisschen Dub Step. Die Berge überdauern die Menschen, aber sie betten ihre Zeit immer wieder neu in das Panorama ein.

Hinter der Bar vibrieren vier oder fünf oder auch sechs Leute, das geht nicht zu zählen, zum lauten, aber angenehmen Beat. Einer steht an der Zapfsäule, bis zum Schluss, durchgehend. Hände reichen Gläser, nehmen Scheine. Seppi sagt aus der Distanz zusehend: „Die machen das gut" und noch zufriedener: „Das ist schon die nächste Generation!" Wenn der Klimawandel nicht dazwischenfunkt, wird sich auch eine vierte ausgehen.

15 Uhr und der Urlaub tanzt! Die Atmosphäre hat bis auf das Panorama nichts mit der Vorstellung einer klassischen Skihütte zu tun. „Ich war ohne Kinder immer hier und jetzt, mit meinen Kindern, komm ich auch her. Wir stehen halt etwas weiter von den Boxen weg", sagt die holländische Touristenmutter. Enkel hüpfen um ihre Großeltern, Jugendliche stehen auf den Bänken, die Mittdreißiger lachend an der Bar und überall sonst, wo sie Platz finden.

Moderner Familienurlaub mit Nachmittagsclub. Die Ansprüche haben sich geändert und Seppi befriedigt sie. Seinem Vater gefällt das Neue übrigens auch.

VEREINTES EUROPA
Ab halb fünf dünnt sich die Terrasse aus. Die Angestellten, die jetzt auch wieder etwas runterkommen, sind aus Österreich, Italien, Tschechien, Deutschland – und haben heute wiederum Menschen aus zig Nationen glücklich gemacht. Europa, vereint auf einer kleinen Hütte in den Alpen, ein zufriedenes, ein glückliches Europa lebt hier. Es geht um Tourismus, klar, um Geldverdienen. Ja, es ist das ein sorgenfreier Urlaub von der Welt, von den Problemen, aber vielleicht nehmen wir Glücklichgemachten diese Erkenntnis ein Stück weit mit, es ist uns zu wünschen.

„Bedankt, zie je morgen." – „Goede nacht!" Dann ist die Hütte mit einem Mal leer und still. Wir stellen uns an den Rand der Terrasse, schauen runter ins Tal. Die Sonne ist schon lange verschwunden und die Berge kommen blau schimmernd zur Ruhe. Nur noch Stille, die Touristen sind weg, die Angestellten schon im Tal, die Gondelbahn fährt nicht mehr, nur noch wir sind hier. Eine Zigarette, ein Schnaps – „Gesundheit!"

Maximilian Brustbauer / Bild: Julius Holländer

Der Dokumentarist

MAXIMILIAN BRUSTBAUER ist neben seiner Tätigkeit als Lehrer am BORG Hegelgasse in Wien unter anderem auch freier Journalist mit Publikationen in der „Presse“, „Wiener Zeitung“ und anderen Medien.

Web: querstadt.net

Zum Schmunzeln ...